Führende Politiker von Union, SPD und Grünen fürchten eine Abkehr von der traditionellen Westbindung Deutschlands. Anlass zur Sorge ist den Politikern ein Ergebnis des aktuellen Deutschlandtrends im Auftrag der ARD-"Tagesthemen" und der "Welt", in dem die Deutschen sich eine neue Rolle für ihr Land als eigenständigen Pol zwischen Ost und West wünschen.
"Dass die Bürgerinnen und Bürger Deutschland künftig stärker zwischen dem Westen und Russland sehen wollen, ist sicher Realität, aber nichts, was dazu führen darf, dass wir diesem Wunsch nachgeben", sagte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir der "Welt". "Es gibt keine Äquidistanz zwischen den demokratischen Bündnispartnern USA und in Europa auf der einen Seite und einem autoritären Regime im Osten auf der anderen", sagte Özdemir. "Wir Deutschen dürfen Putins Politik nicht verharmlosen und sollten uns daran erinnern, dass es die westlichen Alliierten waren, die die Bundesrepublik auf den Pfad der Demokratie gebracht haben und mit uns den Weg der europäischen Einigung gegangen sind." Dieses Friedensprojekt werde nicht vom Westen sondern von Russland infrage gestellt. Eine Mitschuld an dem sinkenden Ansehen des Westbündnisses gab der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments, Elmar Brok (CDU), den USA. Seit seit der NSA-Affäre gebe es ein erhebliches Misstrauen. Amerika müsse selbst daran arbeiten, dieses Misstrauen wieder abzubauen. "Wir haben beispielsweise das Datenschutzrahmenabkommen bis auf einen Punkt fertig ausgehandelt", sagte Brok. Dieser offene Punkt betreffe die Rechte der Europäer in den USA. Wenn ihre Daten dort von Unternehmen oder dem Staat missbraucht würden, hätten die Europäer bislang keine rechtlichen Möglichkeiten, dagegen vorzugehen. "Und an diesem offenen Punkt hängt derzeit das ganze Abkommen", sagte Brok. "Die USA sollten sich in dieser Frage endlich einen Ruck geben, weil wir im europäischen Parlament nämlich keine Mehrheit für das transatlantische Freihandelsabkommen hinbekommen, wenn das Datenschutzrahmenabkommen scheitert", sagte Brok der "Welt". Wenig überrascht von dem Stimmungsbild zeigt sich der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich. "Die Frage ist, was das langfristig bedeutet. Wenn sich dieser Trend gerade in der jungen Generation verfestigt, lässt er sich nur schwer wieder umkehren", sagte er. Die große Affinität der Ostdeutschen sei klar historisch begründet. "Die Dankbarkeit vieler Ostdeutscher gegenüber Russland ist begründet durch Gorbatschows Politik der Perestroika, die die deutsche Einheit erst ermöglichte. Die Russen waren damals viel offener für die Einheit als viele westliche Staaten. Das haben die Menschen nicht vergessen", sagte Mützenich der "Welt". Ausschlaggebend für die neue Positionsbestimmung der Deutschen sind die Ereignisse in der Ukraine und die Krim-Krise. Vor diesem Hintergrund sehen nur 45 Prozent der Befragten die Bundesrepublik fest im westlichen Bündnis, 49 Prozent hingegen favorisieren eine "mittlere Position zwischen dem Westen und Russland". In Ostdeutschland sind es sogar 60 Prozent.