Der Historiker Jörn Leonhard hält die bisherige europäische Integrationspolitik für nicht mehr zukunftsfähig. "In der aktuellen Krise zeigt sich: Das alte Modell, wie Europa zusammengewachsen ist - immer mehr Integration, keine Rückschritte -, funktioniert nicht mehr", sagte Leonhard der "Rheinischen Post" (Freitagausgabe).
Ein neues Modell sei noch nicht in Sicht. Auch daher rühre "die erkennbare Erschöpfung vieler Politiker". Leonhard, der an der Universität Freiburg westeuropäische Geschichte lehrt, hatte 2014 das Sachbuch "Die Büchse der Pandora" über den Ersten Weltkrieg veröffentlicht. Eine Lehre aus der Griechenland-Krise sei, sagte er, "dass die Unumkehrbarkeit als europäische Staatsräson in eine Krise geraten ist. Ein riesiger Fehler wäre es zu sagen: Nur Unumkehrbarkeit sichert Frieden. Der Fetisch der Unumkehrbarkeit schränkt unsere politischen Möglichkeiten ein, rational über andere Optionen zu sprechen."
Leonhard kritisierte auch die Euro-Rettungspolitik der vergangenen Jahre: "Die Menschen merken es, wenn die Regeln über jede Grenze hinaus gebogen werden, nur um zu beweisen, dass es keinen Rückschritt gibt. Wenn die Glaubwürdigkeit der Preis für die Unumkehrbarkeit ist, wäre das ein sehr hoher Preis."
Trotzdem sieht der Historiker in der Krise auch Chancen: "Über Europa ist lange nicht so intensiv gesprochen und nachgedacht worden: über die Leistungen - und über die Probleme. Das ist belastend, aber auch hilfreich, wenn daraus die Erkenntnis erwächst, dass wir nicht weitermachen können wie bisher." Vor allem das Europäische Parlament hat nach seiner Ansicht "ein enormes Potenzial": "Tsipras' Auftritt in Straßburg war ein Event. Europa ist mehr als die Limousinen der Staatschefs, und die Gehäuse der Nationalstaaten werden durchlässiger."