Cottbus (ots) - Holpriger hätte die juristische Aufarbeitung des dunklen NSU-Kapitels nicht beginnen können. Das Oberlandesgericht München blamierte sich bei der Lösung einer relativ einfachen Aufgabe - der Besetzung der Presseplätze. Daraus lassen sich aber keine Schlüsse über die Kompetenz des Gerichts ziehen. Es hat eine sehr schwere Aufgabe und es ist ihm zu wünschen, dass es diese im Sinne eines Staates erfüllt, der seine freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen hat. Verhandelt werden unvorstellbar schwere Verbrechen. Trotzdem muss Richter Manfred Götzl einen kühlen Kopf bewahren und sich von allem frei machen, was nicht unmittelbar mit dem Prozess zusammenhängt. Er wird sich auf die 488 Seiten der Anklageschrift konzentrieren und sich auf die Rechtsprechung beschränken. Das heißt nichts anderes, als dass er die zahlreichen Nebengeräusche, die diesen Prozess von Anfang an begleiten werden und die Rechtsprechung beeinflussen könnten, ausblenden muss. Das betrifft aber nur das Gericht. Die Gesellschaft insgesamt muss sich mit weiterreichenden Fragen zum Thema Extremismus - speziell dem Rechtsextremismus - auseinandersetzen. Wenn solches öffentliches Nachdenken Früchte tragen soll, darf es sich nicht auf sicherheitspolitische und juristische Aspekte beschränken. Denn es geht beileibe nicht nur darum, wie sich Deutschland vor Extremisten schützt oder sie bestraft. Die Gesellschaft muss sich tiefer gehenden, auch unbequemen Fragen stellen. Fehlt es der Demokratie an Attraktivität? Warum wenden sich Menschen von ihr ab? Hat sich ein Teil der Bevölkerung so sehr an die Freiheit gewöhnt, dass sie kaum noch auffällt, geschweige denn als verteidigungswert erachtet wird? Vergessen wir vielleicht sogar, was sie uns einmal wert war - so wie man einen alten Freund aus den Augen verliert, weil er sich nicht regelmäßig meldet. Rechtsextremismus ist kein schönes Thema. Es gibt nicht wenige, die sich in ihrer Privatsphäre gestört sehen, wenn über so unerquickliche Dinge wie Ausländerhass gesprochen wird. Es könnte ja einen Schatten auf das Dorf, die Stadt oder den Verein werfen und die irrige Vorstellung wecken, alle in der Umgebung seien "so". Ein Abwehrmechanismus, der dazu dient, das Unheil fern zu halten. Kinder machen es nicht anders, wenn sie in einem gefährlichen Moment die Augen schließen. Erwachsenenerfahrungen aber belegen das Gegenteil: Das Risiko sinkt, je genauer die Gefahr ins Auge gefasst wird. Schweigendes Tabuisieren also nutzt nichts, sondern fördert vielmehr die Dreistigkeit der Neonazis, die sich in Teilen Brandenburgs und Sachsens nicht einmal mehr scheuen, missliebige Politiker und Journalisten am helllichten Tag zu bedrohen. Der Prozess gegen die NSU-Angeklagten reicht allein nicht aus, das Phänomen begreifbar zu machen. Die Täter kommen aus einem großen braunen Sumpf, den es gilt, trocken zu legen. Dazu gehört der Verfolgungsdruck, den Polizei und Justiz aufbauen können. Dazu gehört aber auch sozialer Druck aus der Gesellschaft. Wenn ein Täter sich nicht für seine Taten schämt, wird er sie nie bereuen. Eben deshalb ist es so wichtig, schweigende Selbstzufriedenheit zu überwinden und laut über das deutsche Gesellschaftsmodell nachzudenken, seine Stärken und Schwächen zu diskutieren. Die Freiheit, das friedliche soziale Miteinander - das sind Werte, die eine permanente Auseinandersetzung brauchen, wenn sie attraktiv und beschützenswert bleiben sollen.
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