Karlsruhe (ots) - Wolfgang Bosbach ist unheilbar an Krebs erkrankt. Trotzdem kandidiert der Vorsitzende des Innenausschusses wieder für den Bundestag. Linke-Fraktionschef Gregor Gysi hatte bereits mehrere Herzinfarkte und musste sich einer komplizierten Operation am Gehirn unterziehen, und doch zieht er wieder als Spitzenkandidat in den Wahlkampf. Wolfgang Schäuble wird in Kürze 71 und ist seit 23 Jahren an den Rollstuhl gefesselt, gleichwohl will er nochmals Finanzminister mit einem 16-Stunden-Tag werden. Und selbst Matthias Platzeck, der vor wenigen Tagen nach einem Schlaganfall als brandenburgischer Ministerpräsident zurückgetreten ist, kandidiert im nächsten Jahr erneut für den Landtag. Keine Frage, das Aufhören fällt nicht allen Politikern leicht, sie klammern sich an ihre Ämter und Posten und wollen nicht loslassen. Und das obwohl ihr Beruf in der Bevölkerung ein denkbar schlechtes Ansehen hat, es keine geregelten Arbeitszeiten gibt, keine 35-Stunden-Wochen und erst recht keine freien Wochenenden. Von 80 Stunden sprach Platzeck bei seinem Rücktritt - und das über Jahre hinweg. Dennoch gibt es keinen Fachkräftemangel, bei der Bundestagswahl am 22. September treten 38 Parteien an, mehrere tausend Kandidaten bewerben sich um ein Mandat, die nächste Generation steht bereit. Präsenz rund um die Uhr, ständige Erreichbarkeit und Multitasking, blitzschnelles Reagieren auf Ereignisse, permanent neue Herausforderungen - Politik ist ein besonderer Beruf und stellt außergewöhnliche Anforderungen an die, die sich darauf einlassen. Im Gegenzug werden Politiker mit einer besonderen Währung bezahlt - öffentliche Aufmerksamkeit, Macht und Einfluss. Selbst einfache Abgeordnete, die auf der großen politischen Bühne als sogenannte "Hinterbänkler" nur ein kleines Rad drehen, sind in ihren Wahlkreisen kleine Könige. Ohne sie läuft nichts, sie sind dabei, wenn wichtige Entscheidungen fallen, sie ziehen die Fäden und stellen die Weichen, beeinflussen gar Karrieren. Die Macht macht süchtig, erst recht, wenn Politiker aufsteigen, sich gegen Konkurrenten durchsetzen, am Macht und Einfluss gewinnen und schließlich am ganz großen Rad drehen. Wer mitbestimmt, wie Gesetze aussehen, wohin die Gelder fließen oder wer befördert wird, mag davon bald nicht mehr lassen. Die 80-Stunden-Woche kommt dabei wie von selber: Wer dazu gehört, will immer dabei sein - und nicht dem Konkurrenten das Feld überlassen. Kein Politiker wird gezwungen, am Sonntagabend in eine Talk-Show zu gehen, man tut es dennoch, um von einem Millionenpublikum als wichtig und bedeutend wahrgenommen zu werden. Am Ende steht der Glaube an die eigene Unersetzlichkeit. Je mächtiger, desto ausgeprägter ist diese Selbstwahrnehmung. Die Angst vor der Macht- und damit der Bedeutungslosigkeit führt dazu, in Freunden Rivalen und in "Kronprinzen" Konkurrenten zu sehen, deren Griff zur Macht verhindert werden muss. Kein Bundeskanzler schaffte es bislang, den Zeitpunkt seines Abgangs selbst zu bestimmen und in Ehren aus dem Amt zu scheiden. Konrad Adenauer musste in den Koalitionsverhandlungen 1961 zum Amtsverzicht in der Mitte der Legislaturperiode gezwungen werden, Ludwig Erhard wurde von seiner eigenen Partei gestürzt, Willy Brandt trat wegen der Guillaume-Affäre zurück, Helmut Schmidt wurde vom Bundestag abgewählt, Kurt-Georg Kiesinger, Helmut Kohl und Gerhard Schröder von den Wählern. Und Angela Merkel? Die Kanzlerin hat von ihren Vorgängern Helmut Kohl und Gerhard Schröder viel abgeschaut - wie man an die Macht kommt und wie man sie verteidigt. Und sie hat gesehen, was passiert, wenn man nicht rechtzeitig los lässt. Denn auch das gehört zum Geschäft - Dankbarkeit gibt es in der Politik nicht. Nichts ist schwerer, als den richtigen Zeitpunkt zum Abgang zu treffen. Wer ihn verpasst, hat schon verloren. Und umso härter der Entzug.
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