Karlsruhe (ots) - Er hatte keine Chance. Aber er hat sie genützt. Sigmar Gabriel, der seit vier Jahren an der Spitze einer zutiefst verunsicherten, geradezu traumatisierten Partei steht, ist in den drei Monaten seit der Bundestagswahl vom unberechenbaren sprunghaften und sich immer wieder das Leben selbst schwer machenden "Siggi Pop" zum seriösen Politiker gereift, der das anfangs Unerwartete und Unmögliche geschafft hat - seine Partei in eine Große Koalition unter einer Kanzlerin Angela Merkel zu führen. Am Abend des 22. September war die Stimmung eindeutig: Lieber Opposition als Juniorpartner in einem Bündnis mit der Union. Die Linken waren ohnehin dagegen, die Jusos ebenso, aber auch die strukturkonservative, pragmatische und ans Regieren gewöhnte Rhein- und Ruhr-SPD. Das Trauma der vorigen Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 saß tief, die Erinnerung an die schwere Wahlniederlage vor vier Jahren war überaus präsent. Das wollte sich die SPD nicht noch einmal antun. Doch Gabriel schlüpfte in die Rolle des Therapeuten, nahm seine Partei an die Hand und verordnete ihr eine wirkungsvolle Kur. Indem er den Koalitionsvertrag zur Abstimmung stellte, band er die Mitglieder ein - und übertrug ihnen auch die Verantwortung. Fürs Scheitern wie fürs Gelingen. Ein völlig neuer Ansatz, wenn auch nicht ohne Risiko für die gesamte Parteispitze. Doch das überwältigende und so kaum erwartete 76-Prozent-Votum der Basis ist Gabriels Meisterstück. Solch einen starken Chef hat die SPD schon lange nicht mehr gehabt, das stärkt seine Position gegenüber Merkel. Nach dem Mitgliederentscheid steht der Wahl Angela Merkels zur Kanzlerin und der Vereidigung ihrer neuen Regierungsmannschaft am Dienstag nichts mehr im Wege. Drei Monate nach der Wahl kann nach der Weihnachtspause endlich mit dem Regieren begonnen werden. Das neue Kabinett weist einige Überraschungen auf. Das Ausscheiden von Ronald Pofalla kommt unerwartet. Damit verliert Merkel ihren bislang engsten Vertrauten und loyalsten Mitstreiter im Kanzleramt. Nicht zu stoppen ist der Aufstieg von Ursula von der Leyen, die als erste Frau überhaupt Chefin des ebenso prestigeträchtigen wie skandalanfälligen Verteidigungsressorts wird. Unverkennbar, wie sie von Merkel zur potenziellen Kronprinzessin gekürt wird. Zu den Aufsteigern gehört auch der neue CSU-Star Alexander Dobrindt mit dem wichtigen Infrastruktur- und Internet-Ministerium. Dagegen sinkt der Stern von Thomas de Maizière, nach der Drohnen-Affäre muss er zurück ins Innenministerium, den Platz dort muss Hans-Peter Friedrich frei machen, der oft überfordert war und in ein abgespecktes Agrarressort wechselt. Und Peter Ramsauer verliert gar sein Amt. Auf vier Personen kommt es in den nächsten vier Jahren maßgeblich an - Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel. Sie sind die tragenden Säulen der Großen Koalition, sie entscheiden über Erfolg oder Misserfolg der Regierung. Wobei die Ausgangskonstellationen unterschiedlicher kaum sein können. Während dies für die Kanzlerin und ihren Finanzminister die letzte Legislaturperiode sein dürfte, haben die ehrgeizige neue Verteidigungsministerin und der nicht minder machtbewusste Superminister für Wirtschaft und Energie bereits die Wahlen 2017 im Blick, bei denen sie sich möglicherweise als Kanzlerkandidaten gegenüberstehen. Von der Leyen wie Gabriel werden ihre mächtigen Ressorts nutzen, um ihr Profil zu schärfen. Eine Konstellation, ebenso prickelnd wie brisant. Beide Ämter können Sprungbrett sein, aber auch Schleudersitz. Der einzige Verteidigungsminister, der es bislang ins Kanzleramt geschafft hat, war Helmut Schmidt. Und nur einem gelang es, vom Vizekanzler zum Kanzler aufzusteigen: Willy Brandt. Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel wandeln auf wahrhaft großen Spuren.
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