Bielefeld (ots) - Es beginnt die Woche der Wahrheit, und sie beginnt denkbar schlecht. Wieder tote Flüchtlinge im Mittelmeer, Chaos auf der Balkanroute, Hickhack zwischen den osteuropäischen Ländern, die sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, indem sie hilfesuchende Menschen hin- und herschieben. Und wieder gibt es hierzulande Brände, wo Flüchtlinge unterkommen sollten - dieses Mal im baden-württembergischen Wertheim und in Laage bei Rostock. Es ist eine wahre Schande! Der Umgang mit den abertausenden Flüchtlingen führt Europa an den Abgrund, wie es die Griechenland-Krise zu keiner Zeit vermocht hat. Und die Deutschen entzweien sich zwischen Humanität und der Sorge vor Überforderung. Debatten werden dabei zu oft nur noch zwischen den Extremen geführt. Die Wortwahl markiert einen eklatanten Mangel an Differenzierung: Zwischen »Gutmenschentum« hier und »Pack« dort, beides ganz und gar verächtlich gemeint, bleibt kaum Raum für Zwischentöne. Dabei brauchen wir gerade jetzt einen möglichst offenen Diskurs darüber, wie die Integration der Flüchtlinge gelingen kann und auch darüber, was alles misslingen könnte. Wer die Probleme leugnet, der macht sie nur größer. »Totschweigen« hilft niemandem, der eine weltoffene und liberale Gesellschaft will. Wir brauchen Realismus und vor allem Ehrlichkeit. Integration kann nur im Konflikt gelingen. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist ein wahrer Marathon. Und dabei sind Rückschläge und Enttäuschungen durchaus normal. So beeindruckend das zivilgesellschaftliche Engagement in Deutschland seit Wochen ist, so dringend braucht es einen verlässlicheren Rahmen. Die neue deutsche Lässigkeit nützt nichts ohne verbindliche Politik und ein funktionierendes Rechtssystem. Gewiss ist das Grundgesetz die unverbrüchliche Basis unseres Handelns, aber Städte und Gemeinden müssen dringend raus aus dem permanenten Krisenreaktionsmechanismus, der auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Diese Woche wird dafür Hinweise geben müssen. Die Politik ist am Zug. Das gilt für das Treffen der EU-Innenminister morgen und den EU-Sondergipfel am Mittwoch in Brüssel wie für das Bund-Länder-Treffen am Donnerstag in Berlin. Der Fragen- und Aufgabenkatalog ist riesig, die Ratlosigkeit ist es auch. Und dieses Mal geht um mehr als »nur« ums Geld. Europa muss den Beweis antreten, dass es die Wertegemeinschaft ist, als die es sich nur zu gern darstellt. Dabei werden viele unangenehme Wahrheiten auf den Tisch kommen - auch für Deutschland. Denn so unwürdig der Umgang der Ungarn mit den Flüchtlingen ist, so sehr werden die europäischen Länder mit einer EU- Außengrenze von der Staatengemeinschaft im Stich gelassen. Auch Italien und Griechenland wissen davon ein Lied zu singen. Auch die Wirtschaft steht in der Pflicht zur Aufrichtigkeit. Gerade in Deutschland wird der Zustrom von Flüchtlingen gern als Lösung für das Problem des Fachkräftemangels beschworen. Doch so richtig es ist, hier jede Chance zu nutzen, so richtig ist auch, dass nicht nur Ärzte und Ingenieure zu uns kommen. Ja, es kommen auch viele Analphabeten ins Land, was eine der elementarsten Fragen aufwirft: Wie schaffen wir es, dass die Flüchtlinge ohne jede Ausnahme und ohne jeden Verzug unsere Sprache lernen, ohne die jede Integration scheitern muss? Denn auch daher rühren die Sorgen vieler Menschen. Es sind Sorgen, die man ernst nehmen muss, weil sie nicht verschwinden, wenn nicht mehr darüber gesprochen wird. Im Gegenteil. Und ja, es sind Sorgen, die auch die Kulturunterschiede, den anderen Umgang zwischen den Geschlechtern und verschiedene religiöse Identitäten betonen. Auch hier darf unsere Verfassung nicht zur Disposition stehen. Wer bei uns leben will, muss unsere Regeln annehmen und achten - ohne Ausnahme. Und schließlich: Viele Ängste mögen irrational sein, aber es muss eine Möglichkeit geben, sie zu äußern, ohne sofort im Verdacht zu stehen, rechtsradikal zu sein. Das gilt umso mehr, da es Verteilungskämpfe geben wird. Schon jetzt ist in den Ballungsräumen zu beobachten, dass sich der ohnehin zu knapp bemessene Wohnraum für Gering- und Normalverdiener weiter verteuert und für viele unerschwinglich wird. Das ist natürlich nicht die Schuld der Flüchtlinge, aber es ist eben auch eine Folge davon, dass jetzt deutlich mehr Menschen nach einer menschenwürdigen Bleibe suchen. Dabei ist Deutschland überaus privilegiert. Unsere Wirtschaftskraft versetzt uns ja erst in die Lage, umfassend zu helfen. Und macht uns als Fluchtziel so attraktiv. Doch das Wohlstandsgefälle innerhalb Europas ist groß - auch das ist ein Grund dafür, warum die Staaten bisher so wenig mit einer Stimme sprechen. Ganz zu schweigen von der dramatischen Situation in den Flüchtlingslagern in der Türkei, im Libanon und in Jordanien. Hier werden wir sehr schnell sehr viel mehr als bisher tun müssen. Was auch zu der Frage führt, welche Verantwortung Deutschland in der internationalen Sicherheitspolitik zu übernehmen bereit ist. Schon bald könnte klar werden, dass diese Verantwortung mehr Einsatz erfordert, als es vielen Deutschen lieb sein dürfte. Wenn Syrien eine Zukunft haben soll, wird es ohne Intervention von außen wohl kaum gehen. Wo stehen wir dann? Trotz alledem aber muss die Integration der Flüchtlinge, die schon bei uns sind, gelingen. In unserem eigenen Interesse. Und es werden weitere Menschen kommen. Niemand kann es ihnen verdenken. Oder würden Sie persönlich eine Chance auf ein besseres Leben ungenutzt lassen - erst recht, wenn es womöglich die letzte sein könnte?
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