Berlin (ots) - Die EU ist in einer Zwangslage. Zu einem Zeitpunkt, da der ungeliebte Beitrittskandidat Türkei sich unter der Regie seines Präsidenten Erdogan immer weiter vom europäischen Standard entfernt, ist man besonders dringlich auf seine Unterstützung angewiesen. Auf der einen Seite steht die Erkenntnis, dass die Türkei ein unverzichtbarer Partner bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise sei. Auf der anderen das verheerende Zeugnis, das die EU-Kommission den Verantwortlichen in Ankara ausgestellt hat: Von "bemerkenswerten Rückschritten", Besorgniserregenden Entwicklungen" und einem "insgesamt negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit" ist da die Rede. Wie passen die beiden Befunde unter einen politischen Hut? Die EU versucht es mit Schubladen-Logik: Die Zusammenarbeit auf dem einen Gebiet habe mit der Kritik auf dem anderen nichts zu tun. Es handle sich schlicht um separate Abteilungen. Das ist Heuchelei. Zwar hat sich die EU ihre Mängelrüge nicht verkniffen. Und sie fiel so deftig aus, dass Ankara verschnupft reagierte. Der Termin der Verkündigung wurde aber rücksichtsvoll verschoben. Die EU-Oberen sind darauf bedacht, den reizbaren Erdogan nicht zu vergrätzen und seinem Geltungsbedürfnis Genüge zu tun. So bekam der türkische Präsident, vor kurzem in Brüssel noch frostig abgefertigt, im Oktober den roten Teppich ausgerollt. Dass zu dem Zeitpunkt Wahlkampf war und Erdogans AK-Partei für seine Pläne focht, sich per Verfassungsänderung zum unumschränkten Alleinregenten aufzuschwingen, wurde billigend in Kauf genommen. Auch der Gipfel an diesem Sonntag dient weniger der Beratung als dem Wunsch der Türkei "nach Wahrnehmung auf Augenhöhe". Solche Beflissenheit ist peinlich, aber noch nicht unanständig. Sie ist der Preis dafür, dass die Europäer verschlafen haben, wie aus einem verschleppten Problem eine Krise von noch nicht dagewesenem Ausmaß wurde. Dass die griechisch-türkische Grenze nicht annähernd die Anforderungen an Außenschutz der Schengen-Zone erfüllte, wurde ignoriert. Ebenso dass die Flucht aus Syrien für immer mehr Menschen nicht im Libanon und Jordanien endete, sondern erst in der Türkei. Sie hat nach eigenen Angaben 2,2 Millionen Kriegsvertriebene aufgenommen. Jetzt, da die EU entsetzt festgestellt hat, ohne die Türken geht es nicht, verlangt Ankara erhebliche Gegenleistungen. Die Verhandlungen darüber - Finanzhilfen, Übernahme von Flüchtlingen aus Lagern in der Türkei gegen Rücknahme von illegalen Zuwanderungen aus der EU - haben mehr Ähnlichkeit mit Basar-Geschacher, als dem Thema angemessen wäre. Doch so ist Politik, das sind strukturelle Schäbigkeiten, die man zur Not in Kauf nimmt. Entscheidend ist die Frage, ob die EU dabei ist, politische Substanz zu opfern. Werden die Standards so gesenkt, dass auch der halbdemokratische Kandidat sie erfüllt? "Die Türkei schließt sich denen an, die eine humane Vision von Europa verteidigen", flötet Ministerpräsident Davutoglu, am Sonntag Gipfel-Gast in Brüssel. Darf man sich von solchen Tönen einlullen lassen? Natürlich nicht, versichern die EU-Dirigenten und verweisen auf ihre "Wertegemeinschaft". Doch diese Antwort reicht nicht. Die Standards verkommen auch im eigenen Lager. Das Vorspiel zum Gipfel war jämmerlich auf beiden Seiten. Erdogan lässt kritische Journalisten verhaften, Kulturminister Glinski in Polen sorgt für die Kaltstellung einer unbotmäßigen Fernsehmoderatorin. Wie man sperrige Medien auf den nationalen Vordermann bringt, kann die neue Regierung in Warschau von den Kollegen in Budapest lernen. Auch auf diesem Weg lässt sich der Unterschied zwischen dem Rechtsstaatsverständnis in der EU und ihrem Kandidaten einebnen. Doch für eine EU, der die Türkei auf dem gegenwärtigen Niveau beitreten könnte, gilt sinngemäß der Merkel-Satz: Das wäre nicht mehr unser Land.
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