Bielefeld (ots) - »Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland«, hatte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gesagt, als er Anfang der 60-er Jahre den großen Frankfurter Auschwitz-Prozess vorbereitete. Er war ziemlich allein auf braungetönter Flur. In der deutschen Nachkriegsjustiz gaben weitgehend noch alte NS-Seilschaften den Ton an. Das ist lange her, aber nicht so lange, dass kein Beteiligter am Holocaust mehr vor Gericht gestellt werden kann. Deshalb ist mehr als 71 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz in Detmold jetzt zum wahrscheinlich letzten Mal ein Beteiligter wegen Verbrechen im größten Vernichtungslager der Nazis verurteilt worden. Zu Recht. Ohne Menschen wie Reinhold Hanning hätte die Mordmaschinerie nicht funktioniert. Es gehe ausschließlich um individuell zuzuordnende Taten. Das hatte Richterin Anke Grudda zu Beginn des Prozesses betont, in dem Wissen, dass es sich doch um einen »ganz besonderen Prozess« handelt. Denn in den 20 Tagen vor dem Landgericht stand nicht nur die Frage nach Schuld und Sühne eines einzelnen Menschen im Mittelpunkt. Das war an fast jedem Verhandlungstag zu spüren. Hier war auch ein Stück bundesdeutscher Geschichte angeklagt: die bewusste Weigerung Nachkriegsdeutschlands, das Menschheitsverbrechen Holocaust konsequent zu ahnden. Eigentlich durfte dies im Prozess keine Rolle spielen - und tat es doch. Ein Drahtseilakt für das Schöffengericht. Zu keinem Zeitpunkt entstand jedoch der Eindruck, dass sich die Justiz an einem 94-jährigen Greis für Versäumnisse vergangener Jahrzehnte abarbeitet. Zugleich gab das Gericht Auschwitz-Überlebenden zum letzten Mal die Möglichkeit, von ihrem Leiden vor einem deutschen Gericht zu berichten. Juristisch war dies nicht notwendig. Es war eine - von der Verteidigung mitgetragene - große Geste. Wer erlebt hat, mit welcher Würde, welcher Gefasstheit die ebenfalls Hochbetagten über das schier Unaussprechliche berichteten, kommt nicht umhin, von einem historischen Ereignis zu sprechen. Inwieweit dies zum Angeklagten durchgedrungen ist, bleibt Spekulation. Wenige Sätze, in denen er von Reue sprach, hatte er für die Prozessbeteiligten übrig. Die Überlebenden ignorierte er, direkte Ansprache verbat er sich, Fragen ließ er unbeantwortet. Das Urteil über fünf Jahre Haft bleibt ein Symbol. Kein Nebenkläger will Reinhold Hanning im Gefängnis sehen. Eine Haftfähigkeit ist eh unwahrscheinlich. Ein deutsches Gericht hat jedoch anerkannt, dass er sich als KZ-Wachmann schuldig gemacht hat. Damit hat das Landgericht die Auffassung Fritz Bauers bestätigt. Das Feindesland gibt es nicht mehr.
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