Düsseldorf (ots) - Kommentar von Michael Bröcker
Oh, my God! Das Europa, in dem wir gestern aufgewacht sind, ist ein anderes geworden. Die Briten verlassen die Europäische Union. Was nicht sein durfte, ist passiert. Was nicht sein konnte, ist eingetreten. Je stärker EU-Politiker gestern versuchten, die innere Verfasstheit der Union als intakt und den Ausstieg als geordneten Prozess zu deklarieren, desto sichtbarer wurde die Zäsur. Die EU steckt in ihrer tiefsten Krise. Im Saal des Ratsgebäudes in Brüssel wird der Stuhl für den britischen Premier abgeschraubt. Thatcher, Major, Blair, Cameron: Geschichte! Aus 28 werden 27. Zwar wird die Trennung noch etwas dauern. Irreversibel ist sie trotzdem.
Und nun? Aus der Schockstarre muss im Club der 27 eine selbstkritische, aber am Ende selbstbewusste Reaktion erwachsen. Sie kann nur lauten: "Jetzt erst recht!" Oder präziser: "Jetzt richtig!" Der Brexit als Chance für einen Neustart. Dazu braucht es eine neue europäische Erzählung. Wenn 17 Millionen Briten der Meinung sind, dass in Brüssel nur verschwenderische und blasierte Funktionäre herumlaufen, kann man dies spöttisch belächeln. Man könnte aber auch nachdenken, wie es dazu kommen konnte, dass Bürger nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft in europäischen Strukturen so etwas glauben. Auch in Schweden, den Niederlanden, Spanien oder Deutschland gibt es Menschen, die mit Brüssel eine teure Bürokratie und nicht die Herzkammer eines historischen Friedensprojekts verbinden. Natürlich ist Europa Letzteres. Nur reicht das nicht. Das Narrativ des "Garanten für Frieden, Stabilität und Wohlstand" (Angela Merkel) bleibt richtig. Aber was bringt das einem 45-Jährigen, der in seinem Leben nur Frieden und offene Grenzen erlebt hat, aber keinen Job findet? Was bringt das der älteren Frau, die eine diffuse Angst vor Zuwanderung verspürt, aber mitansehen muss, dass sich die EU-Granden schnell über die Verteilung von Posten und Subventionen einigen können (nämlich streng nach Proporz), aber nicht über die Aufnahme von Flüchtlingen? Wenn die Staatschefs die Europäische Union wirklich retten wollen, müssen sie mit Entschlossenheit und Ehrgeiz eine transparente und demokratisch legitimierte Einheit bauen, die den Bürgern ihre Sorgen durch ein neues Wohlstandsversprechen nimmt und die sich nur um das kümmert, worum sie sich wirklich kümmern muss. Wer diesem Club beitritt, gewinnt die Zukunft, muss die Botschaft lauten. Dass die Großmächte Frankreich und Deutschland dafür zuerst springen und ihre nationalen Eitelkeiten überwinden müssen, ist der schmerzhafte Teil. Die EU muss sich um die Leitgedanken kümmern, die Außen- und Sicherheitspolitik, die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik. Die Freizügigkeit, die kulturelle Vernetzung als Bildungschance und Karrieretreiber sind Themen, die Europa ausmachen. Die einheitliche Etikettierung der Geflügelwurst im Supermarktregal ist es nicht. Für Großbritannien werden die Folgen des Votums hart sein. Die großen Briten schrumpfen im Weltmaßstab zu Kleinbritannien. In 20 Jahren wird kein europäisches Land mehr zu den globalen Mächten gehören, die EU vielleicht schon. Die Briten verzichten auf eine Wohlstandsdividende durch Verhandlungsmacht. Das ist die politische Schuld auch eines David Cameron, der erst über Jahre gegen die EU wetterte und sich dann für den Verbleib einsetzte. Die Entflechtung, die Rückabwicklung der Mitgliedschaft, wird der britischen Wirtschaft wehtun, so wie die Verflechtung stets wirtschaftliche Vorteile brachte: Pfund-Abwertung, Inflation, Rezession. Einige Briten erkannten die Logik offenbar erst nach der Abstimmung. Bei Google Großbritannien waren die meistgesuchten Begriffe gestern: "Was passiert, wenn wir die EU verlassen?" und "Gold kaufen". Man fühlte sich an die Worte von Charles de Gaulle erinnert, der 1963, zehn Jahre vor dem EG-Beitritt der Briten, Großbritannien als "insular, maritim" und als Land "mit eigenwilligen Gewohnheiten und Traditionen" bezeichnete. Vielleicht passte Großbritannien nie zur EU. Vielleicht muss trotzdem die EU ein bisschen mehr so werden wie Großbritannien. Wer weiß? Irgendwann kann der 23. Juni 2016 dann doch als guter Tag für Europa in den Geschichtsbüchern stehen. Als Tag der Integration. Im gemeinsamen Haus Europa war Großbritannien so etwas wie der Hobbyraum. Mit Billardtisch und Whiskey-Bar. Dieses Zimmer ist nun abgeschlossen. Aber das Haus steht ja noch. Nun muss nur im Wohnzimmer, in der Küche und in den übrigen Räumen gut durchgelüftet werden.
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Oh, my God! Das Europa, in dem wir gestern aufgewacht sind, ist ein anderes geworden. Die Briten verlassen die Europäische Union. Was nicht sein durfte, ist passiert. Was nicht sein konnte, ist eingetreten. Je stärker EU-Politiker gestern versuchten, die innere Verfasstheit der Union als intakt und den Ausstieg als geordneten Prozess zu deklarieren, desto sichtbarer wurde die Zäsur. Die EU steckt in ihrer tiefsten Krise. Im Saal des Ratsgebäudes in Brüssel wird der Stuhl für den britischen Premier abgeschraubt. Thatcher, Major, Blair, Cameron: Geschichte! Aus 28 werden 27. Zwar wird die Trennung noch etwas dauern. Irreversibel ist sie trotzdem.
Und nun? Aus der Schockstarre muss im Club der 27 eine selbstkritische, aber am Ende selbstbewusste Reaktion erwachsen. Sie kann nur lauten: "Jetzt erst recht!" Oder präziser: "Jetzt richtig!" Der Brexit als Chance für einen Neustart. Dazu braucht es eine neue europäische Erzählung. Wenn 17 Millionen Briten der Meinung sind, dass in Brüssel nur verschwenderische und blasierte Funktionäre herumlaufen, kann man dies spöttisch belächeln. Man könnte aber auch nachdenken, wie es dazu kommen konnte, dass Bürger nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft in europäischen Strukturen so etwas glauben. Auch in Schweden, den Niederlanden, Spanien oder Deutschland gibt es Menschen, die mit Brüssel eine teure Bürokratie und nicht die Herzkammer eines historischen Friedensprojekts verbinden. Natürlich ist Europa Letzteres. Nur reicht das nicht. Das Narrativ des "Garanten für Frieden, Stabilität und Wohlstand" (Angela Merkel) bleibt richtig. Aber was bringt das einem 45-Jährigen, der in seinem Leben nur Frieden und offene Grenzen erlebt hat, aber keinen Job findet? Was bringt das der älteren Frau, die eine diffuse Angst vor Zuwanderung verspürt, aber mitansehen muss, dass sich die EU-Granden schnell über die Verteilung von Posten und Subventionen einigen können (nämlich streng nach Proporz), aber nicht über die Aufnahme von Flüchtlingen? Wenn die Staatschefs die Europäische Union wirklich retten wollen, müssen sie mit Entschlossenheit und Ehrgeiz eine transparente und demokratisch legitimierte Einheit bauen, die den Bürgern ihre Sorgen durch ein neues Wohlstandsversprechen nimmt und die sich nur um das kümmert, worum sie sich wirklich kümmern muss. Wer diesem Club beitritt, gewinnt die Zukunft, muss die Botschaft lauten. Dass die Großmächte Frankreich und Deutschland dafür zuerst springen und ihre nationalen Eitelkeiten überwinden müssen, ist der schmerzhafte Teil. Die EU muss sich um die Leitgedanken kümmern, die Außen- und Sicherheitspolitik, die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik. Die Freizügigkeit, die kulturelle Vernetzung als Bildungschance und Karrieretreiber sind Themen, die Europa ausmachen. Die einheitliche Etikettierung der Geflügelwurst im Supermarktregal ist es nicht. Für Großbritannien werden die Folgen des Votums hart sein. Die großen Briten schrumpfen im Weltmaßstab zu Kleinbritannien. In 20 Jahren wird kein europäisches Land mehr zu den globalen Mächten gehören, die EU vielleicht schon. Die Briten verzichten auf eine Wohlstandsdividende durch Verhandlungsmacht. Das ist die politische Schuld auch eines David Cameron, der erst über Jahre gegen die EU wetterte und sich dann für den Verbleib einsetzte. Die Entflechtung, die Rückabwicklung der Mitgliedschaft, wird der britischen Wirtschaft wehtun, so wie die Verflechtung stets wirtschaftliche Vorteile brachte: Pfund-Abwertung, Inflation, Rezession. Einige Briten erkannten die Logik offenbar erst nach der Abstimmung. Bei Google Großbritannien waren die meistgesuchten Begriffe gestern: "Was passiert, wenn wir die EU verlassen?" und "Gold kaufen". Man fühlte sich an die Worte von Charles de Gaulle erinnert, der 1963, zehn Jahre vor dem EG-Beitritt der Briten, Großbritannien als "insular, maritim" und als Land "mit eigenwilligen Gewohnheiten und Traditionen" bezeichnete. Vielleicht passte Großbritannien nie zur EU. Vielleicht muss trotzdem die EU ein bisschen mehr so werden wie Großbritannien. Wer weiß? Irgendwann kann der 23. Juni 2016 dann doch als guter Tag für Europa in den Geschichtsbüchern stehen. Als Tag der Integration. Im gemeinsamen Haus Europa war Großbritannien so etwas wie der Hobbyraum. Mit Billardtisch und Whiskey-Bar. Dieses Zimmer ist nun abgeschlossen. Aber das Haus steht ja noch. Nun muss nur im Wohnzimmer, in der Küche und in den übrigen Räumen gut durchgelüftet werden.
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