Bielefeld (ots) - Knapp zwei Wochen nach der Brexit-Abstimmung ist der deutsche Aktienindex fast wieder auf dem Stand wie fünf Tage vor dem Mehrheitsvotum der Briten. Zugleich gerät der verlangte EU-Austritt mehr und mehr zur Luft- und Lachnummer. Also Business as usual für Börse und Volkswirtschaft? Mitnichten. Die EU steht vor einer langen Phase der Unsicherheit. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Prognos erwartet auf der Insel einen massiven Schrumpfkurs. Selbst 2025 werde die Wirtschaftsleistung im dann hoffentlich noch Vereinten Königreich 15 Prozent niedriger liegen, als wenn es drin geblieben wäre. Finanzkreise fürchten zudem eine Immobilien-Krise, wie sie 2007 in den USA zum Zusammenbruch von Goldman-Sachs geführt hat. Seit langem erlaubt London den Beziehern niedriger Einkommen eine Beleihung ihrer Häuser mit 95 Prozent. Weniger Jobs, weniger Investitionen, weniger Wachstum, sinkende Einkommen sind ohnehin gewiss. Das massenhafte Platzen von Immobilienkrediten scheint da nur noch eine Frage der Zeit. Die gestern von Finanzminister George Osborne eingeleitete schnelle Steuersenkung ist dagegen ein letzter Schuss auf verlorenem Posten. Die Tatsache, dass es Briten schlimmer trifft als andere, täuscht nur die Rachsüchtigen darüber hinweg, dass weniger Wachstum auch den Kontinent belastet. Eine Börsenfusion zugunsten des Finanzplatzes Frankfurt oder auch der schnelle Umzug britischer Billigflieger können nicht wettmachen, was fehlt, wenn die Briten nicht mehr bei uns kaufen. Hinzu kommen politische Tiefschläge, die auf Jahre das Klima trüben. Die Flucht aus der Verantwortung durch Boris Johnson und gestern Nigel Farage ist nur der Anfang. Jeder sieht, dass es keine Exit-Strategie gibt, nicht einmal mehr genug Exit-Strategen. Aber das Votum einer Mehrheit der britischen Bürger bleibt unumstößlich. Die Hängepartie zwischen Austritt und Drinbleiben wird durch die breite Absetzbewegung - eingeleitet durch David Cameron - noch länger dauern. Rest-Europa und seine letzten EU-Enthusiasten wissen auf Jahre nicht, woran sie sind. Zugleich wird Marine Le Pen den französischen Präsidentschaftswahlkampf zum Votum über die EU machen. Österreichs Präsidentschaftswahl 2.0, Schwedens Flirt mit dem Swexit und Geert Wilders Werben in den Niederlanden für Luxus-Enklaven nach schweizer und norwegischem Muster werden im satten Teil Europas die Exit-Phantasien befeuern. An der Börse, wo nüchternes Kalkül die Richtung vorgibt, ist klar, dass Europas Wirtschaft mit Krisen behaftet bleibt. Sichere Häfen fürs Geld liegen derzeit woanders, zum Beispiel in den USA und Kanada. Seriöse Anlageexperten raten deshalb »auf Sicht« zu fahren. Aber das sagen sie immer, wenn sie selbst nicht wissen, was im Nebel vor ihnen liegt.
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