Bielefeld (ots) - Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man glauben, die SPD hätte gerade die Bundestagswahl mit absoluter Mehrheit gewonnen. Wie in einem Rausch wirken die Genossen am Sonntagnachmittag im Willy-Brandt-Haus. Die SPD feiert sich und ihren Kandidaten. Selbstkritik, Demut und Realitätssinn Fehlanzeige. Der große Hoffnungsträger Martin Schulz hat also seine erste »große« Rede als Herausforderer von Angela Merkel gehalten. Danach ging's gleich ins TV-Studio zu Anne Will. Das Herz der Sozialdemokraten hat er schon jetzt erobert - so, als wenn es die Wahlumfragen, die die Partei weiterhin um die 20 Prozent sehen, nicht geben würde. So, als wenn das peinliche Stühlerücken und die Machtkämpfe in den vergangenen Wochen nicht stattgefunden hätten, und so, als wenn ganz Deutschland den 24. September nicht mehr abwarten könne, um endlich den Politikwechsel Richtung Rot-Rot-Grün unter einem neuen Kanzler Schulz herbeizuführen. Das ist aber nicht so. Deshalb sind Zweifel angebracht. Martin Schulz hat keine konkrete Koalitionsaussage gemacht. Das war auch nicht zu erwarten. Aber nach dieser Rede steht fest, dass die SPD erstens stark nach links rückt und zweitens eine Koalition mit den Grünen und der Linkspartei anstrebt. Anders wird es nicht funktionieren können, das Schwerpunktthema soziale Gerechtigkeit im Rahmen eines Politikwechsels umzusetzen. Das Problem ist nur, dass es bislang weder eine spürbare Wechselstimmung im Land gibt noch die SPD laut Umfragen auch nur ansatzweise auf Augenhöhe mit der Union wäre. Nichts anderes ist aber erforderlich, um Angela Merkel als Kanzlerin abzulösen. An Mut fehlt es dem Herausforderer also nicht. An Klarheit schon. Martin Schulz lobte in seiner Rede ausdrücklich auch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Den Mann also, der für die Agenda 2010 steht, die SPD dadurch zerrissen und ihre Basis bis ins Mark getroffen hat. Da kommen Zweifel auf, ob Schulz und die SPD es wirklich ernst meinen. Kaum hatte er seine Rede beendet, äußerte Linken-Chefin Kipping Skepsis ob des Veränderungswillens des SPD-Kanzlerkandidaten. Gebührenfreie Bildung von der Kita bis zur Universität sei wichtig, sagte Kipping, aber ausgerechnet bei einer der Kernfragen der sozialen Gerechtigkeit, der Besteuerung von Reichtum, blieb er mit der Forderung nach Steuergerechtigkeit im Allgemeinen. Die Frage wird am Ende sein, ob und wie es Martin Schulz gelingt, einen wirklichen Gegenentwurf zur Politik Angela Merkels und der Union zu machen. Gegen Rechtspopulismus zu sein, Hass und Hetze im Internet zu kritisieren, mehr Sicherheit zu wollen - das ist zu wenig.
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