Führende Gewerkschafter fordern die Politik auf, die Mittelschicht steuerlich zu entlasten. Das berichtet die "Welt am Sonntag".
Millionen von Arbeitnehmern würden steuerlich behandelt wie Spitzenverdiener, obwohl sie nur Tariflohn bekämen, kritisierte etwa Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). "Unter den Millionen Beschäftigten, die inzwischen den Spitzensteuersatz zahlen, sind auch Hunderttausende unserer Leute. Wenn die Tarifbeschäftigten vom Fiskus genauso behandelt werden wie ihre Chefs, dann stimmt etwas nicht mit unserem Steuersystem", sagte der einflussreiche Gewerkschafter der Zeitung. Kritik am Steuersystem kommt auch aus der IG Metall, der größten Einzelgewerkschaft hierzulande.
Ihr Erster Vorsitzender Jörg Hofmann, forderte von der Politik, die Mittelschicht zu entlasten. "Wir sehen heute die Folgen einer jahrelangen Fehlentwicklung: Während die Beschäftigten einen immer höheren Anteil am Steueraufkommen schultern müssen, machen sich die Besitzer und Erben großer Vermögen einen schlanken Fuß", sagte Hofmann der Zeitung. "Das ist ungerecht und spaltet die Gesellschaft." Auch Zenon Bilaniuk, der Vize-Präsident des Bunds der Steuerzahler (BdSt) klagt darüber, dass immer mehr Arbeitnehmer in Deutschland den Spitzensteuersatz zahlen: "1960 musste man noch das 18-Fache des Durchschnittsverdienst haben, um den Spitzensteuersatz zu zahlen, vor 20 Jahren immerhin noch das 2,5-fache. Heute reicht bei einem Erwerbstätigen mit Vollzeitstelle schon knapp das 1,5-Fache", sage Bilaniuk.
"Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar. Diese Entwicklung muss korrigiert werden." Die Gewerkschaften wollen denn auch die Steuerlast neu verteilen: IG-Metall-Chef Hofmann fordert, die Grundfreibeträge anzuheben, um kleine und mittlere Einkommen zu entlasten - eine Maßnahme, die dafür sorgen könnte, dass viele Angestellte, die heute den Spitzensteuersatz zahlen, künftig nicht mehr darunter fallen.
Zur Gegenfinanzierung schlägt die Gewerkschaft vor, den Spitzensteuersatz anzuheben, Steuerschlupflöcher zu schließen und Steuerbetrug stärker zu ahnden. IG-BCE-Chef Vassiliadis schlägt vor, die kalte Progression und den "Mittelstandsbauch" anzugehen. "Zur Gegenfinanzierung der Mindereinnahmen sollte die Abgeltungsteuer gestrichen und Kapitaleinkünfte wieder wie Arbeitseinkommen besteuert werden. Damit könnte man nicht nur die Entlastung der Arbeitnehmermitte gegenfinanzieren, man würde auch einer eklatanten steuerlichen Ungleichbehandlung von Kapital und Arbeit ein Ende setzen", meint Vassiliadis.