Berlin (ots) - Kurzform: Ohne den Genossen zu nahe treten zu wollen, muss man ihnen nach diesem Parteitag in Wiesbaden entgeistert zurufen: Ihr habt den Schuss nicht gehört! Gerade sieben Monate sind vergangen seit dem Absturz bei der Wahl auf 20,5 Prozent. Die Volkspartei SPD schaut in den Abgrund - und viele Funktionäre glauben, es sei jetzt noch Zeit für Machtspiele und dafür, alte Rechnungen zu begleichen. Andrea Nahles wird Zeit brauchen, ihren herben Dämpfer wegzustecken. Sie kann sich damit trösten, dass die SPD ja seit Jahrzehnten die Tradition pflegt, ihr Spitzenpersonal regelmäßig abzuwatschen.
Der vollständige Leitartikel: Was für ein bitterer Start für Andrea Nahles. Seit drei Jahrzehnten malocht sie für die Sozialdemokratie. Als erste Frau an der SPD-Spitze überhaupt schreibt sie Geschichte. Und dann wird sie von der eigenen Partei abgestraft. 66 Prozent sind eine schwere Hypothek, da gibt es nichts zu beschönigen. Ohne den Genossen zu nahe treten zu wollen, muss man ihnen nach diesem Parteitag in Wiesbaden entgeistert zurufen: Ihr habt den Schuss nicht gehört! Gerade sieben Monate sind vergangen seit dem Absturz bei der Wahl auf 20,5 Prozent. Die Volkspartei SPD schaut in den Abgrund - und viele Funktionäre glauben, es sei jetzt noch Zeit für Machtspiele und dafür, alte Rechnungen zu begleichen. Nicht alle verweigerten Nahles aus Harakiri die Gefolgschaft, sondern können sicher gute Gründe anführen. Enttäuschte Delegierte, die unverändert die GroKo für den Grund allen sozialdemokratischen Übels halten und Nahles & Co. den Kursschwenk nach dem Jamaika-Aus verübeln. Stramme Parteilinke, die Nahles seit Langem nachtragen, dass sie ideologisch längst den Weg in die pragmatische Mitte gegangen ist, wo Macht und Ämter warten. Dazu Anhänger von Sigmar Gabriel, die es offensichtlich nicht verwinden können, wie kühl Nahles den populären Ex-Außenminister und Ex-Parteichef abservierte. Natürlich kostete sie auch die Kampfabstimmung um den Vorsitz Stimmen. Unsouverän war zudem der Umgang der Parteiführung mit der Herausforderin Simone Lange. Das schürte neues Unbehagen. Sie hielt in Wiesbaden eine nette Rede, aber mit utopischen, unbezahlbaren Ideen. Naive Sozialstaatsromantik reichte Lange, um mehr als 27 Prozent zu bekommen. Was wäre passiert, wenn die Flensburger Oberbürgermeisterin eine überragende Rede gehalten hätte? Hätte die Drama-Queen SPD es am Ende noch fertiggebracht, ihre vielleicht letzte Hoffnungsträgerin Nahles ganz in die Wüste zu schicken? Die Parteiführung hat unterschätzt, wie viel Wut über "die da oben" in Berlin sich in der Partei angesammelt hat. Lange war nur ein Ventil dafür. Nahles wiederum war schon immer unbequem. Ihre im engen Zirkel gehütete Macht macht viele an der Basis misstrauisch. Die 47-jährige Maurerstochter aus der Eifel hat aber eine Menge vorzuweisen. Mindestlohn, Rente mit 63 und zig andere Sozialgesetze boxte sie als Arbeitsministerin erfolgreich gegen die Union durch. In den neuen Koalitionsvertrag schrieb Nahles gemeinsam mit Martin Schulz und Olaf Scholz viele neue soziale Wohltaten. Die Partei dankt es ihr nicht. Zu tief sitzt das Misstrauen. Nahles und die Führung haben geglaubt, die durch den Eintritt in die große Koalition gerissenen Wunden seien durch die zahllosen Therapiesitzungen mit der Basis zumindest ansatzweise geheilt. Pustekuchen. Ohne jede Ironie könnte der Schock von Wiesbaden aber auch etwas Gutes für Nahles bewirken. Martin Schulz erlebte die Schizophrenie der SPD von oben nach unten. Wie im Rausch schickte ihn die Partei mit 100 Prozent in die Kanzlerkandidatur - der Europäer aus Würselen brach unter dieser Last zusammen. Nahles wird Zeit brauchen, ihren herben Dämpfer wegzustecken. Sie kann sich damit trösten, dass die SPD ja seit Jahrzehnten die Tradition pflegt, ihr Spitzenpersonal regelmäßig abzuwatschen. Aber Nahles ist aus hartem Holz geschnitzt. Eine Nahles duckt sich nicht weg. Man kann ihr als Demokrat nur Erfolg wünschen. Scheitert Nahles, scheitert vielleicht die SPD. Für Deutschland wäre das in Zeiten, in denen Rechte wieder in großer Zahl im Bundestag sitzen, ein gefährlicher Weg.
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Der vollständige Leitartikel: Was für ein bitterer Start für Andrea Nahles. Seit drei Jahrzehnten malocht sie für die Sozialdemokratie. Als erste Frau an der SPD-Spitze überhaupt schreibt sie Geschichte. Und dann wird sie von der eigenen Partei abgestraft. 66 Prozent sind eine schwere Hypothek, da gibt es nichts zu beschönigen. Ohne den Genossen zu nahe treten zu wollen, muss man ihnen nach diesem Parteitag in Wiesbaden entgeistert zurufen: Ihr habt den Schuss nicht gehört! Gerade sieben Monate sind vergangen seit dem Absturz bei der Wahl auf 20,5 Prozent. Die Volkspartei SPD schaut in den Abgrund - und viele Funktionäre glauben, es sei jetzt noch Zeit für Machtspiele und dafür, alte Rechnungen zu begleichen. Nicht alle verweigerten Nahles aus Harakiri die Gefolgschaft, sondern können sicher gute Gründe anführen. Enttäuschte Delegierte, die unverändert die GroKo für den Grund allen sozialdemokratischen Übels halten und Nahles & Co. den Kursschwenk nach dem Jamaika-Aus verübeln. Stramme Parteilinke, die Nahles seit Langem nachtragen, dass sie ideologisch längst den Weg in die pragmatische Mitte gegangen ist, wo Macht und Ämter warten. Dazu Anhänger von Sigmar Gabriel, die es offensichtlich nicht verwinden können, wie kühl Nahles den populären Ex-Außenminister und Ex-Parteichef abservierte. Natürlich kostete sie auch die Kampfabstimmung um den Vorsitz Stimmen. Unsouverän war zudem der Umgang der Parteiführung mit der Herausforderin Simone Lange. Das schürte neues Unbehagen. Sie hielt in Wiesbaden eine nette Rede, aber mit utopischen, unbezahlbaren Ideen. Naive Sozialstaatsromantik reichte Lange, um mehr als 27 Prozent zu bekommen. Was wäre passiert, wenn die Flensburger Oberbürgermeisterin eine überragende Rede gehalten hätte? Hätte die Drama-Queen SPD es am Ende noch fertiggebracht, ihre vielleicht letzte Hoffnungsträgerin Nahles ganz in die Wüste zu schicken? Die Parteiführung hat unterschätzt, wie viel Wut über "die da oben" in Berlin sich in der Partei angesammelt hat. Lange war nur ein Ventil dafür. Nahles wiederum war schon immer unbequem. Ihre im engen Zirkel gehütete Macht macht viele an der Basis misstrauisch. Die 47-jährige Maurerstochter aus der Eifel hat aber eine Menge vorzuweisen. Mindestlohn, Rente mit 63 und zig andere Sozialgesetze boxte sie als Arbeitsministerin erfolgreich gegen die Union durch. In den neuen Koalitionsvertrag schrieb Nahles gemeinsam mit Martin Schulz und Olaf Scholz viele neue soziale Wohltaten. Die Partei dankt es ihr nicht. Zu tief sitzt das Misstrauen. Nahles und die Führung haben geglaubt, die durch den Eintritt in die große Koalition gerissenen Wunden seien durch die zahllosen Therapiesitzungen mit der Basis zumindest ansatzweise geheilt. Pustekuchen. Ohne jede Ironie könnte der Schock von Wiesbaden aber auch etwas Gutes für Nahles bewirken. Martin Schulz erlebte die Schizophrenie der SPD von oben nach unten. Wie im Rausch schickte ihn die Partei mit 100 Prozent in die Kanzlerkandidatur - der Europäer aus Würselen brach unter dieser Last zusammen. Nahles wird Zeit brauchen, ihren herben Dämpfer wegzustecken. Sie kann sich damit trösten, dass die SPD ja seit Jahrzehnten die Tradition pflegt, ihr Spitzenpersonal regelmäßig abzuwatschen. Aber Nahles ist aus hartem Holz geschnitzt. Eine Nahles duckt sich nicht weg. Man kann ihr als Demokrat nur Erfolg wünschen. Scheitert Nahles, scheitert vielleicht die SPD. Für Deutschland wäre das in Zeiten, in denen Rechte wieder in großer Zahl im Bundestag sitzen, ein gefährlicher Weg.
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