Ursula von der Leyen wird erste Frau an der Spitze der EU-Kommission. Die CDU-Politikerin erhielt allerdings am Dienstagabend im Europaparlament nur eine unerwartet knappe Mehrheit. Wenig später folgte die nächste Überraschung: CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer wird von der Leyens Nachfolgerin als Bundesverteidigungsministerin, wie Regierungssprecher Steffen Seibert bestätigte. Sie soll schon am Mittwoch ernannt werden.
Dieser Wechsel kommt überraschend, weil es immer geheißen hatte, Kramp-Karrenbauer (56) wolle nicht ins Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel gehen, sondern sich auf die Aufgabe als CDU-Chefin konzentrieren. In Präsidiumskreisen hieß es, auch in dieser Runde sei die Entscheidung für viele völlig unerwartet gekommen. Neben Kramp-Karrenbauers Berufung soll es aber nach dpa-Informationen keine Veränderungen im Bundeskabinett geben.
Von der Leyen hatte schon am Montag erklärt, ihr Ministeramt am Mittwoch zur Verfügung zu stellen. Es war vor der entscheidenden Abstimmung über ihre Kandidatur als EU-Kommissionspräsidentin ein Signal, dass sich die 60-Jährige voll auf Brüssel einlässt. Am Dienstag warb sie dann mit einer engagierten Rede für sich und machte weitreichende Zusagen an die Abgeordneten für ein klimafreundliches, soziales und geeintes Europa. Trotzdem wurde sie nur sehr knapp gewählt: Sie erhielt 383 Stimmen, nur neun Stimmen über der nötigen absoluten Mehrheit von 374 Stimmen, wie Parlamentspräsident David Sassoli mitteilte.
Mit Blick auf das hauchdünne Ergbnis machten von der Leyens Kritiker bei den Grünen wie auch bei der AfD sofort geltend, sie sei nur mit Stimmen rechtsnationaler EU-Kritiker gewählt worden. Tatsächlich reklamierte die nationalkonservative polnische Regierungspartei PiS mit 24 Mandaten für sich die entscheidende Rolle bei der Abstimmung. Der Europaabgeordnete Tomasz Poreba schrieb auf Twitter, ohne die Stimmen der PiS wäre von der Leyens Sieg nicht möglich gewesen. Die Abstimmung war allerdings geheim, wer wie gestimmt hat, wird kaum nachvollziehbar sein.
Von der Leyen spielte das knappe Wahlergebnis herunter. "In der Demokratie ist die Mehrheit die Mehrheit", sagte sie nach ihrem Wahlerfolg. Es sei gelungen, eine pro-europäische Mehrheit zu formieren. Vor zwei Wochen, direkt nach ihrer Nominierung durch die Staats- und Regierungschefs, hätte sie vermutlich noch keine Mehrheit gehabt.
So kann die 60-Jährige am 1. November die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker antreten - als erste Frau in dieser Position. Erstmals seit Walter Hallstein (1958-1967) rückt zudem jemand aus Deutschland auf den Spitzenposten. In den kommenden fünf Jahren stehen gewaltige Aufgaben vor ihr - und sie hatte vor den Abgeordneten auch große Pläne angekündigt.
So bekräftigte sie ihr Versprechen eines klimaneutralen Europas bis 2050 und einer Senkung der Treibhausgasemission bis um 55 Prozent bis 2030. "Unsere drängendste Aufgabe ist es, unseren Planeten gesund zu halten", sagte von der Leyen. Sie betonte, sie werde sich für vollständige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen.
Sie sagte zudem vollen Einsatz der Kommission für die Rechtsstaatlichkeit zu - mit allen Instrumenten und mit einem neuen Rechtsstaatsmechanismus. Auch den Brexit muss sie bewältigen. Sie schloss eine Verlängerung der Austrittsfrist für Großbritannien nicht aus, sofern es gute Gründe gibt. Die Frist läuft derzeit bis 31. Oktober.
Ihre politischen Leitlinien legte von der Leyen in einem mehr als 20-seitigen Dokument dar. Arbeitsschwerpunkte darin sind unter anderem der Klimaschutz, die Wirtschafts- und Migrationspolitik sowie die Rolle der EU in der Welt. "Ich sehe die kommenden fünf Jahre als Chance für Europa - um zu Hause über sich hinauszuwachsen und damit eine Führungsrolle in der Welt zu übernehmen", schreibt von der Leyen darin.
Vizekanzler Olaf Scholz und Außenminister Heiko Maas (beide SPD) gratulierten von der Leyen direkt nach der Verkündung des Ergebnisses
- und das, obwohl alle 16 SPD-Europaabgeordneten laut eigener Aussage
gegen die CDU-Frau stimmten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) würdigte von der Leyen als "überzeugte und überzeugende Europäerin" und sagte: "Sie wird nun mit großem Elan die Herausforderungen angehen, vor denen wir als Europäische Union stehen."
Als Kommissionspräsident kann von der Leyen in den nächsten fünf Jahren die politische Linien und Prioritäten der EU mitbestimmen. Sie wird Chefin von mehr als 30 000 Mitarbeitern in der Brüsseler Behörde. Diese ist dafür zuständig, Gesetzesvorschläge zu machen und die Einhaltung von EU-Recht zu überwachen. Sie bestimmt damit auch den Alltag der gut 500 Millionen Europäer mit.
Vor der Abstimmung im Straßburger Europaparlament hatte es sehr viel Unmut gegeben, weil von der Leyen keine Spitzenkandidatin zur Europawahl war. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten die Spitzenkandidaten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten übergangen und stattdessen von der Leyen als Überraschungskandidatin präsentiert.
Die SPD-Europaabgeordneten, die Grünen und die Linken hatten deshalb
- und auch wegen inhaltlicher Differenzen - ein Nein angekündigt./vsr/asa/aha/bk/cn/sk/DP/he
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