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Rechnungshof: Milliarden-Neuverschuldung könnte vermieden werden

Finanznachrichten News

Von Petra Sorge

BERLIN (Dow Jones)--Der Bundesrechnungshof hat die geplante Neuverschuldung zur Dämpfung der Corona-Krise kritisiert und die Wirksamkeit der temporären Mehrwertsteuersenkung hinterfragt. Es sei fraglich, ob sich die "aufgeblähte Nettokreditaufnahme" mit der verfassungsrechtlichen Schuldenregel vereinbaren lasse, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme der Behörde anlässlich einer öffentlichen Anhörung im Bundestags-Haushaltsausschuss am kommenden Montag (ab 13 Uhr). Der Entwurf für den zweiten Nachtragshaushalt beeinträchtige "wesentliche Verfassungsgrundsätze wie Jährlichkeit, Fälligkeit, Wahrheit und Klarheit". So zweifelt der Rechnungshof grundsätzlich daran, ob die Schuldenaufnahme nötig gewesen wäre.

Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung, mit der unter anderem die Mehrwertsteuer von 19 auf 16 und der reduzierte Satz von 7 auf 5 Prozent gesenkt werden sollen, umfasst insgesamt 130 Milliarden Euro. Dazu bittet Finanzminister Olaf Scholz (SPD) den Bundestag um eine neuerliche Nettokreditaufnahme von 62,5 Milliarden Euro. Insgesamt soll der zweite Nachtragshaushalt 218,5 Milliarden Euro umfassen. Damit sind laut Rechnungshof 43 Prozent der veranschlagten Ausgaben kreditfinanziert, was "ein historischer Wert" sei.

BRH: Rücklage von 48,2 Milliarden Euro aufbrauchen 

Dabei hätte eine zusätzliche Nettokreditaufnahme den Experten zufolge "ohne Weiteres vermieden werden" können - und zwar, indem der Bund seine in guten Zeiten angesparte Rücklage aufbraucht. Dabei handelt es sich um die Überschüsse aus den Jahren 2015 bis 2019 in Höhe von 48,2 Milliarden Euro. Diese solle nun nicht wie ursprünglich geplant auf knapp 38 Milliarden Euro abgeschmolzen, sondern für den Bundeshaushalt 2021 "auf Vorrat" gehalten werden, so die Stellungnahme. Würde Scholz indes die Rücklage einsetzen, würde die Neuverschuldung der Rechnung zufolge nicht 62,5, sondern nur noch 14,3 Milliarden Euro betragen.

Dieser Betrag wiederum wäre laut Rechnungshof nicht nötig, wenn sich die Länder stärker an der Finanzierung der Corona-Krise beteiligt hätten und die Regierung auf die rund 20 Milliarden Euro teure Absenkung der Mehrwertsteuer verzichtet hätte. "Ob hierdurch der Konsum gesteigert wird, erscheint fraglich", erklärt der Rechnungshof in der Stellungnahme. Es drohten "erhebliche Mitnahmeeffekte", die Maßnahme sei "wenig zielgenau", der Umstellungsaufwand jedoch "erheblich".

Auch mehrere Wirtschaftswissenschaftler, die der Haushaltsausschuss um Stellung gebeten hat, sehen die bis Jahresende geplante Mehrwertsteuersenkung kritisch. Sie bewirke "eher zusätzlichen oder vorgezogenen Konsum denn zusätzliche private Ersparnisse", schreibt etwa der Ökonom Philipp Bagus von der Universität Madrid. Er warnt, dass das Konjunkturprogramm seinem Zweck "abträglich" sei, weil es weder Steuersenkungen noch Deregulierungen enthalte. "Das Paket atmet den Geist eines merkantilistischen Staatsdirigismus, und steht den marktwirtschaftlichen Prinzipien entgegen."

Ifo-Institut: Mehrwertsteuersenkung steigert BIP nur um 6,5 Milliarden Euro 

In einer Simulationsanalyse des Ifo-Instituts ergibt sich laut Präsident Clemens Fuest, dass die Mehrwertsteuersenkung von 20 Milliarden Euro in diesem Jahr das Bruttoinlandsprodukt nur um 6,5 Milliarden Euro steigen lässt. Für Fuest folgt daraus aber "nicht notwendigerweise, dass die Umsatzsteuersenkung als konjunkturpolitische Maßnahme abzulehnen ist", wie er in seiner Stellungnahme schreibt. "Man kann die Stützung der Unternehmen und die Entlastung der Konsumenten in der aktuellen Krisensituation durchaus als wünschenswert ansehen, selbst wenn es nicht zu einer starken Ausdehnung des Konsums kommt." Wesentlich für die Konjunkturentwicklung sei, dass eine zweite Infektionswelle verhindert werde.

Der Münchner Finanzwissenschaftler Niklas Potrafke weist darauf hin, dass die Regierung ab dem Jahr 2023 zur Schuldenbremse zurückkehren will und ab dann innerhalb von 20 Jahren zu jährlich gleichen Anteilen getilgt werden soll. Möglich seien dazu strukturelle Reformen wie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Auch empfiehlt Potrafke zu prüfen, "ob die Schuldenbremse bereits im Jahr 2022 wieder greifen kann, insbesondere dann, wenn die Konjunktur sich im Laufe des kommenden Jahres erholt".

Die Ökonomin Friederike Spiecker lehnt das ab und empfiehlt die langfristige Streichung der Schuldenbremse aus dem Grundgesetz. Denn die Rückzahlung der jetzigen Neu- wie auch der Altschulden würde "zu einem gesamtwirtschaftlichen Desaster führen", solange die privaten Haushalte und Unternehmen nicht bereit seien sich zu verschulden. Würde es der Staat ab 2023 beiden Sektoren gleich tun und ebenfalls sparen, "folgt daraus zwingend entweder eine Rezession hierzulande oder eine weiter zunehmende Verschuldung des Auslands bei uns oder eine Mischung aus beidem".

Kontakt zur Autorin: petra.sorge@wsj.com

DJG/pso/kla

(END) Dow Jones Newswires

June 26, 2020 11:17 ET (15:17 GMT)

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© 2020 Dow Jones News
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