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WASHINGTON (dpa-AFX) - Der Tod der US-Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg keine 50 Tage vor der Präsidentenwahl kann Amerika einschneidend verändern. Von den neun Sitzen im Obersten Gericht der USA werden jetzt nur noch drei von Liberalen gehalten. Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt.
In einem ersten Schritt bedeutet das bereits, dass kurz nach der Präsidentenwahl im November mit großer Wahrscheinlichkeit die Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama gekippt werden könnte. Selbst wenn der Supreme Court mit vier zu vier Stimmen uneins sein sollte, bliebe die Entscheidung der unteren Instanz in Kraft, die "Obamacare" für ungültig erklärt hatte.
Zugleich will Präsident Donald Trump keine Zeit verlieren und noch in seiner bis zum 20. Januar laufenden Amtszeit Ginsburgs Nachfolge regeln. Die konservative Mehrheit könnte dann auf sechs Stimmen anwachsen. Die aktuellen Konservativen im Supreme Court sind zwischen 53 und 72 Jahre alt - sie könnten das Gericht also noch länger beherrschen. Insbesondere wenn Trump und die Republikaner im Senat die 48-jährige Amy Coney Barrett als Ginsburg-Nachfolgerin durchbringen. Mit Entscheidungen etwa zum Recht auf Abtreibung, zur Einwanderung oder zu Bürgerrechten könnte ein deutlich konservativeres Amerika entstehen.
Aktuell ist die Stimmung im Kampf ums Weiße Haus bereits am Siedepunkt. Allein schon weil Trump keine Gelegenheit auslässt, um vor einer angeblichen Gefahr der Wahlfälschung durch per Post verschickte Stimmzettel zu warnen. Demokraten befürchten, dass der Präsident damit den Boden dafür bereiten könnte, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen und anzufechten. Auch hier könnte das Oberste Gericht das letzte Wort haben.
Die Pläne für eine schnelle Ginsburg-Nachfolge sorgen nun für neuen Streit. Die Demokraten fühlen sich ungerecht behandelt. Denn als Anfang 2016 der Konservative Verfassungsrichter Antonin Scalia starb, verweigerte die republikanische Mehrheit dem von Präsident Barack Obama nominierten Kandidaten Merrick Garland sogar eine Anhörung - mit der Begründung, dass es ein Wahljahr sei. "Das amerikanische Volk sollte an der Auswahl des nächsten Verfassungsrichter teilhaben", erklärte Mehrheitsführer Mitch McConnell. "Deshalb sollte der vakante Posten nicht besetzt werden, bis wir einen neuen Präsidenten haben."
Das war im Februar 2016 - also knapp neun Monate vor der damaligen Präsidentenwahl. Jetzt ist September - und der Republikaner McConnell erklärte nur wenige Stunden nach Ginsburgs Tod, dass der Senat über einen von Trump vorgeschlagenen Nachfolgekandidaten abstimmen werde. Es sei schließlich der Wille der Wähler gewesen, die Republikaner ins Weiße Haus und in den Senat zu bringen, damit sie Richter ernennen können.
Senator Lindsey Graham, der Vorsitzende des Justizausschusses, in dem Verfassungsrichter-Kandidaten durch die Anhörung müssen, redete sich vor vier Jahren mit nahezu prophetischen Worten in eine noch schwierigere Situation als McConnell. "Wenn 2016 ein republikanischer Präsident gewählt wird und sich im letzten Jahr seiner ersten Amtszeit eine Vakanz auftut, können Sie sagen, Lindsey Graham hat gesagt, überlassen wir die Nominierung dem nächsten Präsidenten, wer auch immer das werden mag", verkündete er damals. Und ergänzte, man solle seine Worte dann auch gegen ihn verwenden.
Als jetzt die exakt von ihm damals beschriebene Situation eintrat, kündigte Graham an, er werde Trumps Nominierungspläne unterstützen. Die Demokraten - vom Trump-Herausforderer Joe Biden bis hin zu Ex-Präsident Obama - appellierten bisher vergeblich an Trump und die Republikaner, bis zum nächsten Jahr zu warten.
Die Republikaner haben im Senat eine Mehrheit von 53 der 100 Sitze. Bei einem 50-50-Patt kann der Vize-Präsident die entscheidende Stimme beitragen - was Mike Pence bei der Ernennung des Richters einer tieferen Instanz bereits auch schon getan hat. Die Republikaner dürfen also höchstens drei Stimmen verlieren. Und ab dem 30. November vielleicht auch nur zwei, weil in Arizona der Demokrat Mark Kelly gute Aussichten hat, die republikanische Senatorin Martha McSally abzulösen. Da es eine Sonderabstimmung ist, könnte der Sieger bereits Ende November vereidigt werden.
Nach Ginsburgs Tod kündigte die republikanische Senatorin Susan Collins an, sie wolle das Ergebnis der Präsidentenwahl abwarten. Präsident Trump könne zwar vorerst mit der Nominierung fortfahren - aus "Fairness zum amerikanischen Volk" sollte aber der nächste gewählte Präsident über die Besetzung des Richterpostens aus Lebenszeit entscheiden. Ihre Kollegin Lisa Murkowski aus Alaska betonte, sie werde keine schnelle Entscheidung vor der Präsidentenwahl unterstützen - sie äußerte sich aber nicht zu den Wochen danach.
Zusammen mit der Präsidentenwahl wird in diesem Jahr über 35 Senatssitze abgestimmt. Umfragen zufolge ist es nicht ausgeschlossen, dass die Republikaner sowohl das Weiße Haus als auch den Senat verlieren. Für den Fall, dass sie tatsächlich die Neubesetzung des Obersten Gerichts durchziehen, reift in den Köpfen der Demokraten eine radikale Lösung: Eine Ausweitung des Obersten Gerichts um zwei oder vier Sitze, um die konservative Mehrheit zu verwässern. Dafür sprach sich unter anderem Senator Ed Markey aus Massachusetts aus.
Präsidentschaftskandidat Biden hatte einen solchen Plan unterdessen wiederholt abgelehnt. Er wolle gar nicht erst mit so etwas anfangen, argumentierte Biden im Herbst vergangenen Jahres. Nächstes Mal übernehme die andere Seite die Kontrolle und füge auch Richter hinzu, warnte er. "Wir würden dem Gericht jede Glaubwürdigkeit nehmen."/so/DP/fba