BERLIN (dpa-AFX) - Es ist eine Art außenpolitisches Vermächtnis der Krisen und Konflikte, das Angela Merkel im Bundestag ausbreitet. Zwar klingt es fast wie immer, als die Kanzlerin am Donnerstagvormittag in ihrer wohl letzten Regierungserklärung nach knapp 16 Jahren durch die zentralen Themen des EU-Gipfels geht, bei denen sie später mit den anderen Staats- und Regierungschefs um Lösungen ringen wird. Doch es ist vieles auch ganz anders heute: Im Plenum sitzen die drei Kandidatinnen und Kandidaten, die eine Chance auf Merkels Nachfolge haben. Es ist eine Art Triell auf parlamentarischer Bühne, ein Schaulaufen der Bewerber ums Kanzleramt bei der Wahl im September.
Armin Laschet (CDU) hat als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident auf der Bundesratsbank Platz genommen, er wird später seine erste Rede im Plenum seit 23 Jahren halten. Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock folgt Merkels Worten von ihrem Platz aus in den Fraktionsreihen, SPD-Bewerber Olaf Scholz als Vizekanzler von der Regierungsbank aus.
Als Merkel um 8.55 Uhr im Plenarsaal erscheint, sind viele andere Mitglieder ihrer Regierung schon da. Etwa Innenminister Horst Seehofer (CSU), der mit Merkel so massiv über ihre Flüchtlingspolitik gerungen hat, dass zeitweise sogar die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU vor dem Bruch stand. Heute ist es auch für ihn ein Abschied - wie Merkel scheidet Seehofer nach der Wahl aus dem Parlament aus.
Nur eine Minute vor Merkel kommt Laschet. Sie geht zu ihm - begrüßt da die scheidende Kanzlerin ihren möglichen Nachfolger? Laschet dürfte sich ein solches Signal von diesem Bild wohl wünschen. Kurz danach stößt auch Baerbock zu der kleinen Runde. Ein kurzer coronakonformer Gruß, dann geht sie weiter.
Schnell wird der CDU-Chef nun von Parteifreunden umringt: sein Teampartner im Kampf um den Parteivorsitz, Gesundheitsminister Jens Spahn, Fraktionschef Ralph Brinkhaus, CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, auch ein Abgeordneter. FDP-Chef Christian Lindner kommt und begrüßt Laschet. Ist das ein kalkuliertes Zeichen des Liberalen, der nach der Wahl eine Schlüsselrolle spielen könnte bei der Frage, welche Koalitionen möglich sind: Vielleicht eine Ampel aus Grünen, SPD und FDP oder ein Jamaika-Bündnis mit Union, Grünen und FDP?
Die Kanzlerin liefert ein Kompendium für ihre Nachfolge-Kandidaten
Wehmut oder Abschiedsschmerz sind der Kanzlerin nicht anzumerken, als sie sich durch die Krisen Europas und der Welt redet. Die große öffentliche Emotion ist Merkels Sache nicht. Mehr als die Hälfte ihrer Redezeit spricht sie auch jetzt wieder über Corona, mahnt zu Öffnungen mit Augenmaß. Laschet nestelt bei diesen Worten an seiner Corona-Maske herum. Er galt ja in den vergangenen eineinhalb Pandemie-Jahren öfters als Kritiker des rigiden Kanzlerinnen-Kurses. Fast während der ganzen Merkel-Rede arbeitet der Nordrhein-Westfale an seinem Manuskript. Scholz folgt der Kanzlerin augenscheinlich konzentriert, auch Baerbock macht sich nur sehr selten Notizen.
Als die Kanzlerin zu den anderen brennenden internationalen Themen kommt, wirkt es wie ein Kompendium, eine Art Lehrbuch für die drei Kandidaten - ein Teil von Merkels außenpolitischem Vermächtnis. Migration: Bei der Suche nach einer gemeinsamen Lösung dürfe man nicht ruhen, so schwer das auch sei. Das schwierige Verhältnis zur Türkei: nur im Dialog zu lösen, auch wegen des Flüchtlingsthemas. Russland: Endlich müsse auf EU-Ebene ein gemeinsamer Mechanismus gefunden werden, um geeint mit den Provokationen aus Moskau umzugehen. Und natürlich der mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden wiedergefundene transatlantische Ansatz internationaler Konfliktlösung und die nur weltweit zu bewältigende Klimakrise.
Scholz gibt sich staatstragend
Bei der Aussprache zu Merkels Rede tritt nach Alice Weidel von der AfD - die Rechtspopulisten sind größte Oppositionsfraktion und dürfen als erste reagieren - Scholz ans Rednerpult. Zunächst dankt er Merkel für die Zusammenarbeit in der Europapolitik - die Kanzlerin habe viele Fortschritte erreicht, das sei gut für Deutschland und Europa. Der Finanzminister gibt sich staatstragend. Er will ja Nachfolger der beliebten Merkel werden, da schadet ein wenig Lob für sie nie.
Nach Scholz spricht FDP-Chef Lindner, der mögliche Kanzlerinnen- oder Kanzlermacher nach dem 26. September. Die Reden von Scholz, Baerbock und Laschet werde man auch vor dem Hintergrund ihrer Kanzlerambitionen bewerten müssen, ruft er ins Rund. An alle stelle sich die Frage: Wo werde Deutschland künftig stehen in Europa? Staatsschulden, Migration und Klima - es wirkt, als wolle Lindner der Moderator im Kandidatencheck auf der Parlamentsbühne sein.
Unionsfraktion bejubelt Laschet
Dann ist Laschet an der Reihe. Auch bei seiner letzten Bundestagsrede vor 23 Jahren ging es um internationale Zusammenarbeit. Schon zu Beginn bekommt er derart viel Applaus aus den eigenen Reihen, dass man sich fragt, ob die massiven Zweifel an seiner Kanzlerkandidatur, die in der Fraktion beim Machtkampf mit CSU-Chef Markus Söder Mitte April laut geworden sind, tatsächlich verflogen sein könnten. Er wirbt für internationale Zusammenarbeit, nennt die europäischen Grenzschließungen in der Pandemie einen Fehler und lässt sich auch von dauernden Zwischenrufen aus den Reihen der AfD nicht aus dem Konzept bringen. Selten hat es zuletzt soviel Applaus für Merkel aus der Unionsfraktion gegeben wie nun für Laschet.
Baerbock streut Salz in die Wunden der Union
Als letzte von Merkels Nachfolge-Aspiranten spricht Baerbock. Auch sie dankt der Kanzlerin. Sehr viele Menschen seien dankbar, dass Merkel "in Krisensituationen in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammengehalten" habe. "Gerade auch gegen große Widerstände aus ihrer eigenen Fraktion und vor allen Dingen von Ihrer Schwesterpartei." Das ist Salz in Unionswunden der Vergangenheit - großer Applaus der Grünen. Es reiche aber nicht mehr, Europa immer nur kurzfristig bei externen Krisen zu stabilisieren - auch das eine Spitze gegen Merkel. Es gehe darum, Europas Versprechen zu erneuern - und einen klimagerechten Wohlstand zu schaffen, sagt Baerbock.
Laschet bleibt nach der Rede seiner Rivalin noch eine Weile im Plenum sitzen. Die Kanzlerin ist da schon weg. Auf dem Weg nach Brüssel, zu den Krisen Europas und der Welt./bk/DP/eas