August 2021
Seit Deng Xiaoping sein Land für wirtschaftliche Reformen geöffnet hat, stellte sich westlichen Beobachtern seit den 2000er-Jahren immer wieder die Frage: "Wie kann das funktionieren? Kann eine kommunistische Partei (KP) über eine kapitalistisch verfasste Wirtschaft herrschen? Muss die wirtschaftliche Freiheit mit der - dem Kommunismus inhärenten - totalitären politischen Verfassung kollidieren? Kann es gut gehen, wenn der moralisch-wissenschaftliche Geist des Marxismus sich mit dem (bislang so von ihm bezeichneten) kapitalistischen Teufel verbindet? Nähert sich nun auch China dem westlichen Gesellschaftsmodell an?"
Der Pakt mit Mephisto wurde bekanntlich ausführlich von Goethe in seinem Faust beschrieben. Der Titelheld wettete mit dem Gottseibeiuns, er werde sich niemals ruhig, gemütlich, satt und selbstgefällig zurücklehnen, so viel Wissen und Macht er auch habe. Er werde immer weiter streben, bis an sein wenig gottgefälliges Ende. Auf das moderne China übertragen, sah es so aus, als hätte die faustische KP sich auf den Kapitalismus eingelassen, um dem Land einen ungemütlichen Modernisierungsschub zu verpassen, der die Menschen immer weitertrieb, so wie der Teufel den Faust?
Westliche Investoren haben diese Verbindung gerne mitgemacht. Um der Renditen willen haben sie sich auf China und auf den Kapitalismus mit chinesischen Besonderheiten eingelassen. Lange Zeit gab der Erfolg ihnen Recht. Die Gewinne von Unternehmen wie Volkswagen, BMW oder Knorr-Bremse wurden in den letzten Jahren maßgeblich von den China-Aktivitäten gespeist. Aktienkurse von Unternehmen wie Tencent haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten teilweise verhundertfacht. Der Pakt war einträglich.
In diesem Zusammenhang hören wir weitere bemerkenswerte Nachrichten aus China: Dort gibt man sich nicht mehr nur mit einer achtbändigen Ausgabe von Goethes Werken zufrieden, sondern geht direkt die Übersetzung der Gesammelten Schriften in 143 Bänden an, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Herzogin Sophie initiiert wurde. Die Herausgeber der chinesischen Übersetzung gehen davon aus, das ganze Werk in 30 Millionen Schriftzeichen, verteilt auf 40 bis 50 Bände, fassen zu können. Es sieht so aus, als sei jeder einigermaßen qualifizierte Germanist in China nun Teil dieser monumentalen Aufgabe. Kosten spielen offenbar keine Rolle. Immerhin geht es um Goethe.
Gerüchten zufolge kommt der Auftrag für dieses Mammutprojekt von ganz oben, von Xi Jinping (kurz: XJP) persönlich. Dieser hat eine besondere Beziehung zu Goethes Faust. XJP wurde 1953 als Sohn von Xi Zhongxun geboren, dem einstigen Propaganda-Chef der Kommunisten, der auch Mitglied des Zentralkomitees und Vize-Premier unter Zhou Enlai war. Der Vater fiel 1962 in Ungnade, verlor seine Privilegien und wurde Leiter einer Traktorfabrik in Luoyang. Die ganze Familie musste aus ihrer Villa ausziehen und mit einer Einzimmerwohnung vorliebnehmen. Während der Kulturrevolution 1966 geriet der Vater als ehemaliges Mitglied der Parteielite ins Visier der Viererbande. Er wurde der Öffentlichkeit mit einem Plakat um den Hals präsentiert, auf dem seine Sünden aufgelistet waren. Er wurde mit Schlägen und Tritten durch die Straßen getrieben, während seine Frau neben ihm herlief und ihn als revisionistischen Verräter beschimpfte. Eine von XJPs Halbschwestern beging bald Selbstmord. Der künftige KP-Chef selbst wurde im Alter von 15 Jahren allein nach Liangjiahe geschickt, ein bitterarmes Dorf, dessen Bewohner in fensterlosen Höhlen wohnten. Dort gab es einen weiteren jungen Exilanten, der XJP eine chinesische Übersetzung von Goethes Faust gab. Dieses Buch blieb auf Jahre hinaus dessen einzige Lektüre. Angela Merkel gegenüber versicherte er glaubhaft, den Faust bis heute auswendig zu können.
XJP, scheinbar voll des Lobes für Mao, dem er und seine Familie all die Demütigungen zu verdanken haben, hat sich Mao sogar zum Vorbild für die eigene Ausgestaltung seines Amtes genommen. Auch das erscheint als faustischer Pakt: XJP weiß um den Schrecken der Maoistischen Herrschaftsform, aber um des Nutzens willen übernimmt er sie.
In letzter Zeit sind aber Zweifel aufgekommen, wer in der Beziehung zwischen der chinesischen KP und dem westlichen Kapitalismus der Faust ist, und wer Mephisto. XJP scheint Geschmack gefunden zu haben an der Rolle des Geistes, der stets verneint. Seit bald einem Jahr zwingen die Regulierungsbehörden einzelne Firmen oder ganze Branchen in ein Korsett, das ihnen das Leben schwerer macht - durch das Verbot bestimmter Geschäftspraktiken, durch Festsetzung von Preisen oder durch die Verordnung höherer Lohn(-neben-)kosten. Im Fall der privaten Unterrichts- und Nachhilfeindustrie läuft die Regulierung auf das Ende des Geschäftsmodells und wahrscheinlich den Ruin einer Reihe börsennotierter Firmen hinaus.
Vielleicht sind die chinesischen Oligarchen in den Augen der Goethe lesenden Regierung tatsächlich zu satt und selbstgefällig geworden. Vielleicht ging ihnen der Innovationshunger ab, in den für die Regierung entscheidenden Sektoren wie der Chipindustrie. Dominanz im Spiele- und E-Commerce-Sektor, in dem die meisten chinesischen Tech-Giganten aktiv sind, hilft jedenfalls in der Rivalität mit den USA kaum weiter. Onshore-gelistete IT-Aktien sind seit Mitte Februar um 33 % gestiegen und haben in den letzten zwei Wochen um 9 % zugelegt, obwohl der übrige Markt erheblich unter Druck geriet. Vielleicht wirken die großen E-Commerce Unternehmen auf XJP einfach nur wie ein lahm gewordener Faust, der nun seine Rechnung begleichen muss.
Auf den faustlesenden Investor wirkt es, als hätten die Finanzmärkte im Kalkül von XJP ihren Nutzen verloren. Der chinesische Staat macht der Wirtschaft klar, dass er die Unternehmen als Mittel sieht, um die eigenen Zwecke zu erreichen - und dass Geschäftsmodelle, die nicht mehr passend erscheinen, mit einem Federstrich der Regulierungsbehörde beendet werden können. Auf gut 1.000 Milliarden Dollar summierten sich zwischenzeitlich die Kursverluste chinesischer Technologieunternehmen.
Was bedeutet es für westliche Investoren, die als Mephisto ausgezogen waren und sich nun plötzlich in der Rolle des Faust wiederfinden? Kurzfristig wird der regulatorische Druck auf Technologieunternehmen weiter zunehmen. Nach fast zwei Jahrzehnten relativer Freiheit ist das chinesische Internet nicht mehr von der Art von Regulierungsaufsicht ausgenommen, die für andere Sektoren schon lange Routine ist. Das Gewinnwachstum bei den etablierten Unternehmen in China wird sich erheblich verlangsamen, denn die Regulierung wird in jedem Fall die Kosten nach oben treiben und durch die Förderung neuer Konkurrenz auch Teile der Umsätze gefährden. Die Risikoprämie wird steigen, d.h. die Bewertung chinesischer Aktien wird auf absehbare Zeit nicht mehr die alten Höhen erreichen. Alibaba hat auf die geschätzten Gewinne für das Jahr 2023 nur noch ein KGV von 13. Diese Bewertung passt nicht zu einem hochprofitablen und stark wachsenden E-Commerce-Oligopolisten, sie ist als Ausdruck der Furcht vor Enteignung zu deuten.
Langfristig strebt die chinesische Führung wahrscheinlich noch immer eine rasche technologische Entwicklung an, bei der sowohl private Unternehmen als auch ausländisches Kapital eine wichtige Rolle spielen. Die Frage ist nur, ob sie die nötige regulatorische Finesse entwickelt, um eine Wiederholung des Marktgemetzels vergangenen Monats zu verhindern. Die neue Rollenverteilung rechtfertigt ein erhebliches Misstrauen in die chinesischen Märkte.
Gleichwohl wird dieses heute in erheblichem Umfang bereits in den Kursen reflektiert. Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass China sich ganz von den Finanzmärkten abwenden wird. Immerhin sind diese die Gänse, die goldene Eier legen. Warum sollte man sie ganz schlachten? Es reicht, sie zu verschrecken und ihnen unmissverständlich klarzumachen, wer Faust und wer Mephisto ist. Das aber ist zweifellos gelungen.
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