(neu: Nato-Treffen)
KABUL/BERLIN/DENZLINGEN (dpa-AFX) - Nach drastischem Gebietsgewinn der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan will die Bundesregierung das Personal der deutschen Botschaft in Kabul auf das "absolute Minimum" reduzieren. Es werde sofort ein Unterstützungsteam in die afghanische Hauptstadt geschickt, sagte Außenminister Heiko Maas (SPD) am Freitag im baden-württembergischen Denzlingen. Wie viele Mitarbeiter genau ausgeflogen werden, sagte er aus Sicherheitsgründen nicht. Die Taliban setzten ihre Gebietsgewinne unterdessen in rasantem Tempo fort. Binnen einer Woche haben sie mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte eingenommen.
Am Freitag waren nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 18 der 34 Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Islamisten. Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar in der Nacht und der wichtigen Stadt Laschkargah am Morgen eroberten die Taliban mit Pul-i Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.
Maas sagte, die Botschaftsmitarbeiter würden mit Chartermaschinen ausgeflogen. Darin würden auch afghanische Ortskräfte, die früher für die Bundeswehr oder Bundesministerien gearbeitet haben oder heute noch für sie arbeiten, ausgeflogen. Maas bekräftigte, dass die Visaerteilung für die Ortskräfte in Deutschland erfolgen werde, um den Prozess zu beschleunigen. "Alle weiteren Maßnahmen werden wir mit unseren internationalen Partnern in den nächsten Tagen abstimmen. Maas rief alle Deutschen auf, das Land sofort zu verlassen. Eine hohe zweistellige Zahl deutscher Staatsbürger ist noch im Land.
Die Beschlüsse wurden vom Krisenstab der Bundesregierung gefasst, der am Freitag angesichts der dramatischen Lage in Afghanistan zusammengekommen war. Das Entwicklungsministerium setzt zudem alle Projekte in von den Taliban eroberten Gebieten aus, wie Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sagte. Deutschland hat Afghanistan alleine für dieses Jahr 430 Millionen Euro Hilfe zugesagt. Maas hatte bereits angekündigt, dass davon kein weiterer Cent fließen werde, wenn die Taliban die Macht übernehmen. Abschiebungen afghanischer Asylbewerber aus Deutschland sind bereits ausgesetzt.
Die USA hatten bereits am Donnerstag angekündigt, ihr Botschaftspersonal zu reduzieren und rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul zu entsenden. Auch London will rund 600 Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten zu sichern. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums schloss nicht aus, dass auch Bundeswehrsoldaten zur Absicherung einer Rückholaktion zum Einsatz kommen könnten. Die Bundeswehr halte Kräfte bereit, die "im Falle eines Falles zur Verfügung stehen", sagte er. Dänemark und Norwegen kündigten an, ihre Botschaften in Kabul vorübergehend zu schließen.
Am Nachmittag kamen zudem Vertreterinnen und Vertreter der Nato-Staaten zusammen, um über die Lage zu beraten. Die Sicherheit des Personals vor Ort habe oberste Priorität, teilte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Anschluss mit. Angesichts des hohen Maßes an Gewalt durch die Taliban sei man sehr besorgt. Die diplomatische Präsenz der Nato solle aber aufrechterhalten werden.
Ein Provinzrat und ein Parlamentarier sagten der Deutschen Presse-Agentur am Freitag, die Taliban hätten in der Provinzhauptstadt Pul-i Alam in der Provinz Logar die wichtigsten Regierungseinrichtungen übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass Taliban-Kämpfer in der Provinz für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.
Der afghanische Präsident Aschraf Ghani schwieg lange zur Lage. Am Freitagnachmittag (Ortszeit) teilte sein Vize Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der "Armee der Ignoranz und des Terrors" - also den Taliban - entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300 000 Sicherheitskräfte und 60 000 Taliban-Kampfer gibt.
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. "Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe", sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.
Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Firus Koh in der Provinz Ghor, Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul. Drei Großstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Masar-i-Scharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung.
In Kandahar hatte es mehr als drei Wochen lang schwere Zusammenstöße zwischen der Regierung und den Taliban gegeben, bevor die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Freitag die zweitgrößte Stadt des Landes räumten, wie der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin sagte, der die Provinz im Parlament vertritt./vee/DP/nas