KABUL/BERLIN (dpa-AFX) - Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan haben Deutschland und andere westliche Staaten begonnen, in großer Eile ihre Staatsbürger und gefährdete afghanische Ortskräfte auszufliegen. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte am Montag, die Bundeswehr wolle ihre Luftbrücke so lange wie möglich aufrecht erhalten, "um so viele Menschen wie möglich herauszuholen". Am Flughafen der Hauptstadt Kabul spielten sich dramatische Szenen ab. Hunderte oder vielleicht auch Tausende verzweifelte und verängstigte Menschen versuchten, auf Flüge zu kommen, wie Videos in Online-Medien zeigten.
Für Entsetzen sorgten insbesondere Aufnahmen, die zeigen sollen, wie Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sie sich im Fahrwerk der Maschine versteckt hatten oder sich am Flieger festhielten. Diese Angaben konnten zunächst nicht unabhängig verifiziert werden.
Ein Mann, der in der Nähe des von US-amerikanischen und türkischen Soldaten gesicherten Flughafens lebt, schrieb der Deutschen Presse-Agentur, auf einem benachbarten Dach sei einer der Abgestürzten aufgeschlagen. Es habe gekracht wie bei einer Explosion. Er teilte Bilder und Videos der Leiche und schrieb, drei weitere Männer seien in der Nachbarschaft gefunden worden. Auf einem anderen Video soll zu sehen sein, wie Dutzende Menschen am Flughafen Kabul neben einer rollenden US-Militärmaschine laufen. Einige klettern auf das Flugzeug und klammern sich fest.
Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen, darunter der Bundeswehr, in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte eingenommen - viele kampflos. Am Sonntag rückten sie auch in Kabul ein. Kämpfe gab es keine.
Der blitzartige Vormarsch hatte viele Beobachter, Experten und auch die US-Regierung überrascht. Bundesaußenminister Heiko Maas sagte am Montag: "Es gibt auch nichts zu beschönigen: Wir alle - die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft - wir haben die Lage falsch eingeschätzt." Kritiker hatten der Bundesregierung vorgeworfen, die Geschwindigkeit der Taliban unterschätzt und die Evakuierung afghanischer Ortskräfte zu schleppend organisiert zu haben.
UN-Generalsekretär António Guterres mahnte die militant-islamistischen Taliban zu "äußerster Zurückhaltung", um so Leben zu schützen. Humanitäre Hilfe müsse weiter möglich sein, und allen Menschen, die das Land verlassen wollten, müssen dies möglich sein, forderte er Montag bei einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats. Die Weltgemeinschaft rief der UN-Chef auf, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen und Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen.
Der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Armin Laschet äußerte sich aber skeptisch über eine Aufnahme afghanischer Flüchtlinge in großer Zahl. "Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann", sagte der CDU-Vorsitzende nach Beratungen von Präsidium und Bundesvorstand seiner Partei. "Die Konzentration muss darauf gerichtet sein, vor Ort, jetzt diesmal rechtzeitig - anders als 2015 - humanitäre Hilfe zu leisten." In dem Jahr waren Hunderttausende Migranten weitgehend unkontrolliert nach Deutschland eingereist.
Die Lage in Kabul selbst war am Montag angespannt, aber zunächst ruhig. Die Taliban besetzten überall in der Hauptstadt Polizeistationen und andere Behördengebäude, wie Bewohner der Deutschen Presse-Agentur berichteten. Bewaffnete Kämpfer fuhren in Militär- und Polizeiautos sowie anderen Regierungsfahrzeugen durch die Stadt. Gleichzeitig errichteten sie weitere, eigene Kontrollpunkte.
Nach der faktischen Machtübernahme durch die Taliban sollen Gespräche zwischen Politikern und Vertretern der Islamisten laufen. Das teilte ein Sprecher des ehemaligen Präsidenten Hamid Karsai der Deutschen Presse-Agentur mit. In einem ersten Schritt habe man betont, dass das Leben und das Vermögen der Bevölkerung sowie die öffentliche Infrastruktur geschützt werden müssten, sagte der Sprecher weiter.
Die Aufständischen wollen ein "Islamisches Emirat Afghanistan" errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001. Damals setzten sie mit drakonischen Strafen ihre Vorstellungen eines islamischen Staats durch: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach angesichts der Entwicklung von "bitteren Stunden", gerade für die vielen Afghanen, die auf Fortschritt und Freiheit gebaut hätten - vor allem die Frauen. Insgesamt gehe es bei der Evakuierung um etwa 10 000 Menschen, da die Familienmitglieder mitgerechnet würden.
In der Nacht zu Montag landeten nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. Wenige Stunden später starteten am Morgen die ersten drei Militärmaschinen der Bundeswehr mit Fallschirmjägern an Bord Richtung Kabul. Sie sollen die Evakuierung absichern.
Frauenrechtsorganisationen wandten sich mit eindringlichen Appellen an die Bundesregierung, gerade Frauenrechtlerinnen und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen in Afghanistan bei der Ausreise zu unterstützen. Die stellvertretende Terre-des-Femmes-Vorsitzende Inge Bell sagte, besonders Akteurinnen, die sich für die Rechte von Frauen eingesetzt hätten, schwebten nun in Todesgefahr. "Schon jetzt rächen sich die Taliban an Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen oder eingesetzt haben."
Viele Afghanen zeigten in sozialen Medien offen ihre Wut über den geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani. Er habe Afghanistan zerstört, durch ihn seien Tausende Kinder nun vaterlos, er habe dem Land jegliche Sicherheit genommen und es dem Feind übergeben, schrieb die Sängerin Sedika Madadgar auf Facebook. Er werde als das "schmutzigste Tier" in Afghanistans Geschichte eingehen.
US-Präsident Joe Biden sah sich nach dem schnellen Vormarsch der Taliban im Kreuzfeuer führender Republikaner. Der frühere US-Präsident Donald Trump warf seinem Nachfolger vor, sich den Taliban "ergeben" zu haben. Biden habe mit seiner Afghanistan-Politik "das Vertrauen in die Macht und den Einfluss Amerikas zerstört".
Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300 000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60 000 schlechter ausgerüsteten Taliban-Kämpfern gegenüber. Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie sich während ihrer Herrschaft in den 1990er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen verdient haben.
Mit psychologischer Kriegsführung und dem Einsatz sozialer Medien brachten sie viele Sicherheitskräfte zur Aufgabe. Andernorts einigten sich lokale Politiker, Älteste oder Stammesführer über den Köpfen der Sicherheitskräfte hinweg mit den Taliban auf eine Kapitulation.
Die Aufständischen setzten während ihrer Herrschaft 1996 bis 2001 mit teils barbarischen Strafen ihre Vorstellungen durch, bevor die US-Truppen in Afghanistan einmarschierten. Sie hatten dem Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, Unterschlupf im Land gewährt./vee/DP/stw