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KABUL/BERLIN/WASHINGTON (dpa-AFX) - Trotz einiger Zeichen der Entspannung am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul harren dort weiterhin Tausende verzweifelte Menschen bei großer Hitze und teils chaotischem Gedränge aus. Sieben Zivilisten kamen in dem Tumult ums Leben, wie das britische Verteidigungsministerium mitteilte. Berichten zufolge gingen auch mehrere Kinder verloren. Zugleich warnte die US-Regierung vor der Gefahr von Terroranschlägen am Airport. Wegen der massiv gestiegenen Zahl an Binnenflüchtlingen - nach UN-Angaben 300 000 allein in den vergangenen zwei Monaten - droht sich die humanitäre Lage in dem vom Krieg gebeutelten Land deutlich zu verschärfen.
Vor einer Woche hatten die militant-islamistischen Taliban Kabul erobert und die Macht übernommen. Seitdem fürchten Oppositionelle, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und auch Ortskräfte, die für westliche Staaten tätig waren, Racheaktionen. Viele Bürger befürchten, dass die Extremisten wie schon vor 25 Jahren ein islamisches "Emirat" errichten wollen und dabei mit drakonischen Strafen gegen Andersdenkende vorgehen.
Die Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am Flughafen Kabul oder in der Umgebung sei "real, akut und anhaltend", sagte der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am Sonntag im Sender CNN. Entsprechende Warnungen nehme man "absolut todernst". Die militant-islamistischen Taliban und der regional aktive Zweig des IS sind verfeindet.
Die USA und ihre Verbündeten versuchen derzeit, so viele ihrer Staatsbürger sowie afghanische Ortskräfte wie möglich aus dem Land auszufliegen. Viele schaffen es jedoch derzeit gar nicht, den Flughafen zu erreichen. Manche werden an Checkpoints der Taliban zurückgewiesen. Ein großes Hindernis stellte dann das Gedränge vor den Toren des Flughafens dar. Die US-Streitkräfte brachten nach Angaben des Pentagons seit Beginn ihrer Mission am Samstag vergangener Woche 17 000 Menschen über die Luftbrücke in Sicherheit.
Die G7-Staaten wollen am Dienstag auf einem Sondergipfel ihr Vorgehen in Afghanistan abstimmen, unter anderem bei den Evakuierungen. Für weitere Rettungsflüge bleibt absehbar nur noch eine gute Woche Zeit. Die USA wollen eigentlich zum 31. August den Abzug ihrer Truppen abschließen. Eine Fortführung des Evakuierungseinsatzes ohne die USA gilt als ausgeschlossen. Die britische Regierung, aber auch deutsche Politiker, setzten sich am Sonntag für eine Verlängerung der Rettungsmission ein.
Die USA aktivierten in einem seltenen Schritt dabei bereits die zivile Luftreserve und verpflichteten kommerzielle Fluggesellschaften zur Unterstützung. Dabei sollen 18 Flugzeuge von 6 US-Airlines helfen, Menschen von Zwischenstationen ans Ziel zu bringen, teilte das Pentagon mit. Kabul direkt anfliegen sollen sie nicht.
Die Bundeswehr, die bisher mehr als 2500 Menschen aus Kabul evakuierte, sprach am Sonntag von einer "relativ entspannten" Situation am Flughafen nach den "dramatischen" Zustände vom Samstag. Zuvor seien "Leute gedrängt, gequetscht, zum Teil runtergetrampelt" worden. Unter den Menschen habe sich jetzt aber herumgesprochen, dass das Nordtor länger geschlossen bleiben soll, sagte Brigadegeneral Jens Arlt, der den deutschen Evakuierungseinsatz leitet.
Die Bundeswehr fliegt nun auch Hilfsgüter vor allem für Kinder in die afghanische Hauptstadt. Babynahrung, Windeln, aber auch Obst und Hygieneartikel würden über das Drehkreuz im usbekischen Taschkent nach Kabul gebracht, sagte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). "Ich bin sehr froh, dass wir auch an der Stelle ein bisschen Entlastung schaffen können."
Auch der britische Evakuierungseinsatz nahm an Fahrt auf. Innerhalb von 24 Stunden wurden mehr als 1700 Menschen in acht Militärmaschinen ausgeflogen, wie das britische Verteidigungsministerium mitteilte. Die Niederlande verstärkten ihren Rettungseinsatz und schickten am Sonntag weitere Soldaten nach Kabul. Sie sollen helfen, Flugzeuge, Evakuierte und das konsularische Notfallteam zu schützen. Am US-Luftwaffenstützpunkt im pfälzischen Ramstein brachte eine Afghanin an Bord einer Evakuierungsmaschine unterdessen ein Baby zur Welt, nachdem während des Fluges ihre Wehen eingesetzt hatten.
Aus Kabul gab es zugleich weiterhin besorgniserregende Meldungen. Einer Reportage des Fernsehsenders Ariana News zufolge kümmert sich eine Familie aus Kabul seit einer Woche um einen sechsjährigen Jungen, den sie am Flughafen im Stacheldraht festhängend gefunden hatte. Auch lokale Journalisten berichteten in sozialen Medien, dass Menschen Fotos von vermissten Kindern am Flughafen anbringen. Einwohner Kabuls berichteten der Deutschen Presse-Agentur zudem, dass das Bargeld ausgeht; die meisten Geldautomaten seien praktisch leer.
Die humanitäre Lage in Afghanistan könnte sich deutlich verschärfen. Zwischen Jahresbeginn und Anfang August sind mehr als 550 000 Menschen in dem Krisenland wegen Gefechten aus ihren Städten und Dörfern geflohen. Das geht aus Daten der UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) hervor. Im Vorjahr waren es im gleichen Zeitraum rund 165 000 Binnenflüchtlinge gewesen. Weitere fünf Millionen Menschen im Land gelten als Langzeitvertriebene.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UN-Kinderhilfswerks Unicef warnen, dass die Versorgung von Millionen mit Arzneimitteln und anderen wichtigen Gütern immer schwieriger werde. Das dürfe in der Diskussion um Rettungsflüge nicht vergessen werden, teilten die beiden Organisationen mit. Mit 18 Millionen Menschen, die Hilfe benötigten, sei Afghanistan schon vor den Ereignissen der vergangenen Woche der drittgrößte humanitäre Einsatz weltweit gewesen.
Die EU-Kommission hat alle EU-Länder aufgerufen, über das Umsiedlungsprogramm des UN-Flüchtlingshilfswerks mehr Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. So bräuchten etwa Menschenrechtsaktivisten und Journalisten vor Ort Hilfe, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der "Welt am Sonntag". EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte am Samstag bereits bei einem Besuch in Spanien einen ähnlichen Appell an alle Staaten gerichtet, die an der Afghanistan-Mission beteiligt waren. Sie stellte finanzielle Hilfe für EU-Mitglieder in Aussicht, die Flüchtlinge aufnehmen./vee/DP/mis