BERLIN (dpa-AFX) - Monatelang flogen bei der Bahn die Fetzen: "Lügenbaron" und "Niete in Nadelstreifen", das musste sich Martin Seiler anhören, der Personalchef der Bahn. Abgefeuert hat die Giftpfeile Gewerkschaftschef Claus Weselsky, wo immer er konnte. Doch nun zeigt sich, zur Erleichterung der Fahrgäste: Es geht auch anders.
Zehn Tage lang haben die Bahn und die Lokführergewerkschaft GDL geheim verhandelt. Kaum jemand bekam das mit - denn nach außen drohte Weselsky erst noch mit dem nächsten Streik. Am Donnerstag dann die Überraschung: Seiler und Weselsky reichen sich - pandemiegeschult - die Faust. Ein Kompromiss ist gefunden. Doch was taugt er und ist der Tarifstreit damit wirklich beendet?
Was wurde beschlossen?
Vereinbart wurden Tariferhöhungen von insgesamt 3,3 Prozent in zwei Stufen. Zwei Mal erhalten die Beschäftigten eine Corona-Prämie: je nach Entgeltgruppe 300, 400 oder 600 Euro in diesem Jahr sowie einheitlich 400 Euro im nächsten Jahr. Einen Kompromiss fanden beide Seiten außerdem beim Thema Altersvorsorge sowie beim Thema Tarifhoheit.
Sind Streiks damit nun wirklich vom Tisch?
Der neue Tarifvertrag läuft über 32 Monate bis Oktober 2023. Solange herrscht Friedenspflicht, die GDL kann bis dahin nicht mehr streiken. Doch der Tarifkonflikt bei der Bahn ist damit noch nicht endgültig gelöst: Nun stehen möglicherweise Nachverhandlungen zwischen der Bahn und der größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) an. Schließlich geht der GDL-Kompromiss über den Abschluss hinaus, den EVG und Bahn schon im vergangenen Jahr erzielt hatten.
EVG-Chef Klaus-Dieter Hommel sagte der dpa: "Wir bereiten uns auf Verhandlungen vor, aber auch auf Maßnahmen bis hin zum Arbeitskampf." Wenn die Gewerkschaft ihr Sonderkündigungsrecht nutzt, darf sie auch wieder streiken. Die Bahn will das aber unbedingt verhindern. Die EVG habe 2020 in der Corona-Krise große Solidarität gezeigt, sagt Seiler. "Von daher ist es mir wichtig, dass keine Mitglieder der EVG in irgendeiner Form schlechter gestellt werden oder Nachteile haben."
Wer hat sich durchgesetzt: die GDL oder die Bahn?
Einen klaren Sieger gibt es nicht. Beide Seiten haben klare Abstriche gemacht: "Ich fühle mich wohl", bilanzierte GDL-Chef Weselsky. Dabei nahm er in Kauf, dass die betriebliche Altersvorsorge für künftige Mitarbeiter wie geplant umstrukturiert wird. Er hat es auch nicht geschafft, Tarifverträge für den gesamten Eisenbahnbetrieb zu schließen. Die Infrastruktur bleibt allein bei der EVG.
Nicht zuletzt musste Weselsky einem notariellen Verfahren zur Mehrheitsbestimmung der Gewerkschaften in den einzelnen Betrieben zustimmen. Dagegen hatte er sich zuvor vehement gewehrt.
Doch das Entgegenkommen muss der Konzern teuer bezahlen: Mit zwei Corona-Prämien, einer acht Monate kürzeren Vertragslaufzeit als zunächst angeboten sowie der ersten Tariferhöhung noch in diesem Jahr. Die Erhöhung fällt zudem mit 3,3 Prozent um 0,1 Punkte höher aus als von der GDL zuletzt gefordert.
Wie geht es nun weiter?
Zunächst wird eine mögliche Neuverhandlung zwischen Bahn und EVG in den Fokus rücken. Das wird sich eine Weile hinziehen, zumal noch nicht alle Vereinbarungen aus dem Tarifabschluss 2020 umgesetzt sind, wie EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch sagte. Konkrete Streikpläne hat die Gewerkschaft noch nicht.
Darüber hinaus wird das sogenannte Tarifeinheitsgesetz in der Diskussion bleiben. Es sieht vor, dass in einem Betrieb mit mehreren Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren angewendet wird. Die GDL hat es in dieser Runde angestachelt.
Denn in den meisten der rund 300 Bahn-Betriebe hat die EVG die Mehrheit. Nur in 16 Betrieben stellt die GDL mehr Mitglieder. In 71 Betrieben sind die Mehrheitsverhältnisse allerdings unklar. Die GDL hat zugestimmt, dass ein Notar die Mehrheiten dort nun feststellen soll. Erst dann wird deutlich, wie sehr die GDL ihren Einfluss im Konzern wirklich ausbauen konnte.
Kann es eines Tages wieder zu langen Streiks kommen?
Das ist bei der Bahn immer möglich - je nachdem, welche Forderung gerade im Raum steht. Sowohl GDL als auch EVG haben in den vergangenen Jahren bewiesen, dass sie den Betrieb lahm legen können, und so Millionen Menschen treffen. Das macht Streiks bei der Bahn zu einem effektiven Druckmittel. Beide Gewerkschaften haben aber auch immer wieder gezeigt, dass sie friedlich verhandeln können. Zwischen dieser und der vorigen Streikwelle der GDL lagen sechs Jahre.
Die Konkurrenz zwischen den beiden Gewerkschaften bleibt aber bestehen, das Ringen um Einfluss und Organisationsbereiche. EVG-Mann Loroch warnt schon vor Überbietungswettewerben. Er verweist auf die andauernden Verluste bei dem hoch verschuldeten Staatskonzern. "Beide Gewerkschaften löffeln aus einem Topf."/bf/maa/hoe/sam/DP/nas