BERLIN (dpa-AFX) - Deutliche Zugewinne für die Sozialdemokraten, historisches Debakel für die Union: Die SPD ist bei der Bundestagswahl nach Hochrechnungen vom späten Abend stärkste Kraft geworden. Die CDU/CSU stürzt nach 16 Jahren Regierung von Kanzlerin Angela Merkel auf ein Rekordtief. Trotzdem reklamierte am Sonntagabend nicht nur Olaf Scholz (SPD), sondern auch Armin Laschet (CDU) den Regierungsauftrag für sich. Beide wollen mit Grünen und FDP regieren. FDP-Chef Christian Lindner schlug Vorabgespräche mit den Grünen vor, die mit einem Rekordergebnis drittstärkste Partei wurden.
Nach Hochrechnungen von ARD und ZDF gegen 22.50 Uhr verbessert sich die SPD auf 25,8 bis 26,0 Prozent (2017: 20,5). Die CDU/CSU fällt auf 24,1 bis 24,2 Prozent (32,9). Die Grünen erreichen unter Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock 14,3 bis 14,6 Prozent (8,9). Die FDP erzielt 11,5 Prozent (10,7). Die AfD, bisher drittstärkste Kraft, kommt auf 10,5 bis 10,6 (12,6). Die Linke rutscht auf 4,9 bis 5,0 Prozent ab (9,2).
Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern sich damit deutlich. Die Sitzverteilung sieht nach den Hochrechnungen so aus: SPD 205 bis 210 (2017: 153), CDU/CSU 194 bis 195 (2017: 246), Grüne 116 (67), FDP 91 bis 93 (80), AfD 84 bis 86 (94), Linke 39 bis 40 (69). Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), als Partei nationaler Minderheiten von der Fünf-Prozent-Hürde befreit, kann voraussichtlich einen Abgeordneten in den Bundestag schicken.
In Deutschland zeichnet sich nun eine schwierige Regierungsbildung ab. Einzig mögliches Zweierbündnis wäre eine neue große Koalition, die aber weder SPD noch Union wollen. Deshalb dürfte es voraussichtlich zum ersten Mal seit den 50er Jahren ein Dreierbündnis im Bund geben.
Scholz sieht einen klaren Wählerauftrag für die SPD und strebt den Abschluss möglicher Koalitionsgespräche bis Jahresende an. Viele Wählerinnen und Wähler hätten deutlich gemacht, dass sie einen "Wechsel in der Regierung" wollten und der nächste Kanzler Olaf Scholz heißen solle, sagte er am Abend. Es gebe ein paar Parteien wie die SPD, die Grünen, die FDP, die Zuwächse erzielt hätten, andere wiederum nicht. "Auch das ist eine Botschaft", betonte er. Es gilt als wahrscheinlich, dass Scholz ein Ampel-Bündnis mit Grünen und FDP anstrebt, wie es in Rheinland-Pfalz seit 2016 regiert.
Laschet betonte seinerseits, die CDU/CSU werde alles daran setzen, eine Bundesregierung unter Führung der Union zu bilden. "Deutschland braucht jetzt eine Zukunftskoalition, die unser Land modernisiert." CSU-Chef Markus Söder sprach sich für ein "Bündnis der Vernunft" unter Führung Laschets aus: "Wir glauben fest an die Idee eines Jamaika-Bündnisses", sagte er. "Wir wollen gemeinsam in diese Gespräche gehen mit dem klaren Ziel, den Führungsauftrag für die Union zu definieren, dass Armin Laschet dann der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wird."
FDP-Chef Lindner bekräftigte noch am Abend seine Präferenz für eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen. "Die inhaltliche Nähe zwischen Union und FDP ist die größte", sagte er, betonte aber zugleich, demokratische Parteien sollten Gespräche nie ausschließen. Ein solches Jamaika-Bündnis, wie es in Schleswig-Holstein regiert, war 2017 im Bund an der FDP gescheitert. Diesmal dürften eher die Grünen bremsen. Vor allem in der Finanz- und der Klimapolitik sind die Differenzen zwischen Grünen und FDP groß.
Grünen-Chef Robert Habeck hielt seiner Partei alle Optionen offen. Man habe "gute Chancen, stark in die nächste Regierung zu gehen", sagte er. "Wir wollen regieren." Baerbock sagte: "Es geht ja nicht um die Mittel, sondern es geht um das Ziel, was am Ende erreicht werden muss."
Normalerweise lädt die stärkste Partei zu Gesprächen ein. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es aber auch Fälle, dass die zweistärkste Partei den Kanzler stellte. Willy Brandt wurde 1969 Kanzler einer sozialliberalen Koalition, obwohl die SPD nur auf Platz zwei gelandet war. Genauso war es bei Helmut Schmidt 1976 und 1980.
Für eine rot-grün-rote Koalition reicht es nach den Hochrechnungen nicht. Die Linke musste am Abend überdies befürchten, unter die Fünf-Prozent-Hürde zu rutschen. Sie hat aber gute Chancen, drei ihrer zuletzt fünf Direktmandate zu verteidigen, sie dürfte damit laut Grundmandatsklausel trotzdem entsprechend ihres Zweitstimmenergebnisses wieder in den Bundestag einziehen.
Für die Union ist das Ergebnis zum Ende der Ära Merkel ein schwerer Schlag - nicht nur für die CDU, sondern auch für die CSU, deren Parteichef Söder sich im Frühjahr in einem Machtkampf mit Laschet um die Kanzlerkandidatur geliefert hatte. Nach den Hochrechnungen stürzte auch die CSU auf ein Rekordtief, sie kommt in Bayern nur noch auf 32,4 Prozent (2017: 38,8). Laut ARD-Hochrechnung von etwa 22.00 Uhr liegt damit bundesweit nur noch bei 5,1 Prozent (6,2).
Über weite Strecken hatte die Union in Umfragen klar geführt. Wegen des Höhenflugs der Grünen galt lange ein schwarz-grünes Bündnis als wahrscheinlich. Im Wahlkampf leisteten sich Laschet und Grünen-Kanzlerkandidatin Baerbock aber Patzer. Laschet machte am Abend deutlich, dass er CDU-Chef bleiben will, und ließ die Frage des Fraktionsvorsitzes offen.
Baerbock zeigte sich trotz des Rekordergebnisses ihrer Partei enttäuscht. "Wir wollten mehr", räumte sie ein. Das habe nicht geklappt, auch aufgrund eigener Fehler. "Dieses Land braucht eine Klimaregierung", betonte Baerbock. "Dafür kämpfen wir jetzt weiter mit euch allen."
Vorerst gestoppt scheint der Höhenflug der AfD, die 2017 erstmals in den Bundestag einzog und damals aus dem Stand drittstärkste Partei wurde. Die Co-Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, nannte das Abschneiden ihrer Partei "sehr solide". Weidel kündigte ferner an, sie wolle Fraktionschefin bleiben.
Der neue Bundestag dürfte so groß werden wie nie zuvor. Schon in der abgelaufenen Wahlperiode war er auf die Rekordgröße von 709 Abgeordneten angewachsen. Die Hochrechnungen von ARD und ZDF gingen am Abend von 730 bis 740 Sitzen aus. Union und SPD hatten 2020 nur eine kleine Wahlrechtsreform beschlossen. Eine größere Reform ist erst für die Wahl 2025 geplant.
In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wurden parallel zum Bundestag neue Landesparlamente gewählt. In der Hauptstadt lieferten sich SPD und Grüne ein enges Rennen, mit leichtem Vorteil für die Sozialdemokraten. Wer neue Regierende Bürgermeisterin wird, war zunächst nicht klar: SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey oder ihre Grünen-Konkurrentin Bettina Jarasch.
In Mecklenburg-Vorpommern holte die SPD von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig mit weitem Abstand die meisten Stimmen. Auf Basis von Hochrechnungen hätte Schwesig mehrere Koalitionsoptionen. Sie könnte mit dem bisherigen Partner CDU weitermachen oder auch eine im Land schon erprobte Koalition mit den Linken bilden. Auch eine sogenannte Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist möglich./shy/DP/zb