(aktualisierte Fassung)
BERLIN (dpa-AFX) - Während die Pläne für eine Norderweiterung der Nato konkreter werden, hat Russlands Armee das belagerte Stahlwerk in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol erneut schwer beschossen. Kämpfe gingen auch in anderen Teilen der Ukraine weiter. Finnlands Präsident und Regierungschefin verkündeten am Sonntag, dass das jahrzehntelang neutrale russische Nachbarland einen Antrag auf Beitritt zur Nato stellen will. Auch das traditionell bündnisfreie Schweden nahm am Sonntag weiter Kurs auf eine historische Kehrtwende: Die regierenden Sozialdemokraten sprachen sich für einen Nato-Beitritt aus. Viele Ukrainer feierten unterdessen inmitten aller Schreckensnachrichten den beispiellosen Sieg ihrer Band beim Eurovision Song Contest.
Ukraine wirft Russland Phosphor-Angriff vor - Angriffe in Region Lwiw
Kämpfe setzten sich im Zuge des seit mehr als zweieinhalb Monate andauernden russischen Angriffskriegs in mehreren Teilen der Ukraine fort. Erstmals seit einigen Tagen wurde auch wieder im Westen des Landes militärische Infrastruktur beschossen.
Das Gelände des Stahlwerks von Azovstal, wo sich die letzten ukrainischen Kämpfer verschanzt haben, soll nach Vorwürfen der Ukraine mit Phosphorbomben angegriffen worden sein. Der Mariupoler Stadtratsabgeordnete Petro Andrjuschtschenko warf Russland am Sonntag den Einsatz der Waffen vor, deren Einsatz gegen Menschen verboten ist. Beweise gab es zunächst nicht. Solche Brandbomben entzünden sich durch Kontakt mit Sauerstoff und richten verheerende Schäden an.
Der Kommandeur der Donezker Separatistenbrigade "Wostok", Alexander Chodakowski, und russische Kriegskorrespondenten hingegen berichteten von Angriffen mit Brandraketen vom Typ ??-21 (9?22?). Beide Seiten veröffentlichten ein Video mit Luftaufnahmen, auf denen ein Feuerregen zu sehen ist, der auf das Werk niedergeht.
Mehrere Ehefrauen der letzten dort verschanzten Kämpfer schilderten derweil in einem Interview katastrophale Zustände in Azovstal. Pro Person gebe es nur noch ein Glas Wasser am Tag, sagte eine der Frauen. Sie und die anderen forderten einmal mehr eine Evakuierung aller verschanzten Kämpfer - zuerst der Schwerverletzten unter ihnen. Deren Situation sei "schrecklich": Manchen fehlten Arme oder Beine, es gebe kaum noch Medikamente oder Betäubungsmittel.
Nach den Angriffen im Westen der Ukraine wurde zunächst nichts über Tote oder Verletzte bekannt, wie der Chef der ukrainischen Militärverwaltung, Maxym Kosyzkyj, im Nachrichtenkanal Telegram mitteilte. Das Ausmaß der Zerstörung werde untersucht. Ein Objekt nahe Jaworiw - vermutlich um den dortigen Truppenübungsplatz herum - soll komplett zerstört sein. Es war demnach das erste Mal seit etwa einer Woche, dass es Luftalarm in der Region Lwiw (Lemberg) nahe der polnischen Grenze gab. Im Lagebericht des russischen Militärs gab es dazu zunächst keine Angaben.
Weg zu Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens konkreter - Türkei blockiert
Finnlands Präsident Sauli Niinistö und Regierungschefin Sanna Marin verkündeten am Sonntag gemeinsam, dass die Regierung einen Antrag auf Beitritt zur Nato stellen will. Die Zustimmung des finnischen Parlaments steht noch aus, eine Mehrheit gilt aber als sicher. Die Rede war von einem "historischen Tag" und einem "neuen Zeitalter". Das Land war seit Jahrzehnten bündnisfrei und teilt sich mit Russland eine rund 1300 Kilometer lange Grenze.
Lange galt ein Beitritt in die Militärallianz als undenkbar, doch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einem Umdenken geführt. Auch im ebenfalls bisher bündnisfreien Schweden sprach sich die Regierungspartei später am Tag für einen Nato-Beitritt aus.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte den geplanten Nato-Beitritt Finnlands in einem Telefonat mit Niinistö am Samstag als Fehler bezeichnet. Von Russland gehe keine Bedrohung für das Nachbarland aus, sagte er nach Kremlangaben bei dem Gespräch. Finnlands Abkehr von der traditionellen Neutralität werde zu einer Verschlechterung der nachbarschaftlichen Beziehungen führen. Direkte Drohungen habe es bei dem Gespräch aber keine gegeben, betonte Niinistö.
Eine Blockadehaltung innerhalb der Nato nimmt derweil die Türkei ein. Das Land knüpft sein Ja zu einem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens an Unterstützung im Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurdenmiliz YPG in Syrien. Zudem kritisiert Ankara, dass mehrere Länder wegen des türkischen Kampfes gegen diese Gruppierungen die Lieferung von Rüstungsgütern an die Türkei eingeschränkt haben.
Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung sei daher gegen eine Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato, "und sie rufen uns dazu auf, diese zu blockieren", erklärte Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Berlin. Bereits am Freitag hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gesagt, skandinavische Länder seien geradezu "Gasthäuser für Terrororganisationen". Für einen Beitritt Schwedens und Finnlands braucht es einen Konsens innerhalb der Militärallianz.
ESC-Sieg mit großem Punkteabstand für die Ukraine in Turin
Der Erfolg der Ukraine beim Eurovision Song Contest war von vielen Experten rund um den Wettbewerb erwartet worden, vor allem durch viele Punkte von den Zuschauern entstand einer großer Abstand zum britischen Sänger Sam Ryder auf Platz zwei. Die Euphorie in Kiew war anschließend riesig. "Wir siegen an der musikalischen Front, und wir siegen auch an dieser jenen Front. Streitkräfte der Ukraine, dieser Sieg ist für Euch, für jeden, der heute unser Land verteidigt", schluchzte der Moderator des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, Timur Miroschnytschenko, nach der Entscheidung. "Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision!", schrieb Präsident Selenskyj bei Telegram.
London: Russland hat ein Drittel seiner Bodenkampftruppen verloren
Nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten haben die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein Drittel ihrer im Februar eingesetzten Bodenkampftruppen verloren. Verschärft werde das durch den Verlust von entscheidendem Material zum Brückenbau und zur Aufklärung. "Die russischen Streitkräfte sind zunehmend eingeschränkt durch zerstörte Fähigkeiten zur Versorgung, anhaltend niedriger Kampfmoral und reduzierter Kampfkraft", hieß es am Sonntag im täglichen Geheimdienst-Update zum Ukraine-Krieg des britischen Verteidigungsministeriums auf Twitter./haw/DP/he