PARIS (dpa-AFX) - Jonas Vingegaard genehmigte sich auf seiner Tour d'Honneur ein Gläschen Champagner, ehe er auf dem Prachtboulevard Champs Élysees von tausenden Landsleuten in rot und weiß frenetisch gefeiert wurde. Der schmächtige Junge aus der Fischfabrik in Jütland ist am Sonntag nach 3343,8 Kilometern am Ziel seiner Träume angelangt. 26 Jahre nach dem inzwischen arg befleckten Triumph von Bjarne Riis herrschte bei der Tour de France in Paris wieder Danish Dynamite. "Es waren unglaubliche drei Wochen, ein Traum", sagte Vingegaard, nachdem er den scheinbar unbesiegbaren Titelverteidiger Tadej Pogacar entthront hatte.
So erlebte die Tour, die am Sonntag mit dem Sieg von Jasper Philipsen im Sprint royale vor Dylan Groenewegen und Alexander Kristoff ihr stimmungsvolles Ende fand, die Wandlung eines einstmals von Selbstzweifeln und Nervosität geplagten Mannes zum souveränen Siegfahrer. In den Alpen und Pyrenäen offenbarte er keine Schwächen - und verspürt längst Lust auf mehr. "Ich will noch mehr gewinnen", sagte der 25-Jährige, der sich auch als großer Sportsmann zeigte, als er nach Pogacars Sturz in den Bergen auf ihn wartete. "Wir haben eine gute Beziehung. Wir sind keine Freunde, aber wir respektieren uns."
So darf sich die Tour auf weitere große Duelle freuen. Denn auch Pogacar - dieses Mal mit mehr als drei Minuten Rückstand Zweiter - ist heiß auf eine Revanche. "Viele Leute wollen einen anderen Sieger sehen. Es ist nicht so schlimm, die Plätze mal zu tauschen. Ich habe einen stärkeren Gegner gefunden. Das gibt mir Motivation, im nächsten Jahr besser zu sein", sagte der zwei Jahre jüngere Slowene, dessen Team durch mehrere Corona-Fälle dezimiert worden war.
Vingegaard und sein Jumbo-Visma-Team mit dem dreifachen Etappensieger und Alleskönner Wout van Aert zerdrückten quasi die Konkurrenz. Das bekam auch Simon Geschke zu spüren, dessen Traum vom ersten deutschen Bergkönig in Paris auf der letzten Pyrenäen-Etappe platzte. Inzwischen sind die Tränen beim Mann mit dem Vollbart getrocknet. "Ich denke, dass ich eine schöne Show abgeliefert habe. Es scheint, dass ich eine Menge Fans dazu gewonnen habe. Ich habe offenbar die letzten Wochen nicht alles falsch gemacht", sagte Geschke, der von Landsmann Nils Politt zum "Sieger der Herzen" gekürt wurde.
So war es für die mit neun Fahrern kleinste deutsche Fraktion seit 20 Jahren eine Tour der verpassten Möglichkeiten. Zum Gelben Trikot fehlten Lennard Kämna in Megeve nur winzige elf Sekunden, und den Etappensieg verpasste der Norddeutsche in La Planche des Belles Filles um weniger als 100 Meter. Trotzdem gehörte Kämna, der wegen einer Erkältung nach dem zweiten Ruhetag ausgestiegen war, zu den Gewinnern unter den deutschen Fahrern.
Erstmals seit 2019 gab es keinen deutschen Etappensieg. Nicht viel besser waren die Gastgeber, die erst am drittletzten Tag jubeln durften und das größte Fiasko seit 1999 abwendeten. Dafür feierte das kleine Dänemark. Mit dem Rückenwind des stimmungsvollen Grand Départs, der passenderweise in Kopenhagen stattfand, gab es gleich vier Tagessiege durch Vingegaard, Ex-Weltmeister Mads Pedersen und Magnus Cort Nielsen.
Es ist nicht der erste Radsport-Boom, den das Land aus dem hohen Norden erlebt. Die letzten beiden Male endeten in einer großen Ernüchterung. Riis räumte später im Zuge des Telekom-Skandals ein, bei seinem Triumph gedopt gewesen zu sein und Michael Rasmussen wurde 2007 kurz vor dem Ende aus dem Gelben Trikot gezerrt und nach Hause geschickt, weil er den Dopingkontrolleuren falsche Aufenthaltsorte genannt hatte. Auch er gestand später Doping.
Glaubt man Vingegaard, haben sich die Zeiten geändert. "Wir sind total sauber. Jeder von uns. Ich kann für das ganze Team sprechen. Niemand von uns nimmt etwas Verbotenes", sagte der neue Tour-Patron. Rasmussen, heute Journalist im Tour-Tross, sprach von einer "unsinnigen Frage". Er kenne keinen aktiven Fahrer, der vor laufender Kamera etwas gestehe.
Die Tour hat seit 2015 keinen Dopingfall registriert, dafür gab es in diesem Jahr 17 Corona-Fälle. Auch das ist - wie in der Gesellschaft - durch die Lockerungen inzwischen Normalität. So erlebten der viermalige Tour-Champion Chris Froome und der Deutsche Max Walscheid das Tour-Finale nur daheim vor dem TV./tas/DP/he