
02.01.2023 - Behavioral Finance, oder verhaltensorientierte Finanzmarktforschung, wie man im deutschen Sprachraum sagen würde, ist ein interdisziplinäres Fachgebiet zwischen Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Soziologie, das sich mit der Erforschung der menschlichen Verhaltensweisen im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen und dem Anlageverhalten auf den Finanz- und Kapitalmärkten befasst. Im Gegensatz zur traditionellen, neoklassischen Finanztheorie, die davon ausgeht, dass Menschen rational handeln und ihre Entscheidungen aufgrund von vollem Wissen und klaren, stabilen Präferenzen treffen und damit dem Leitbild des nutzenmaximierenden "Homo oeconomicus" entsprechen, geht die Behavioral Finance davon aus, dass menschliches Verhalten durch Emotionen, Vorurteile und andere psychologische Faktoren beeinflusst wird, die das Denken und Verhalten beeinträchtigen können.
Natürlich stellt sich nun die Frage, welchen praktischen Wert diese Erkenntnisse für den Anleger und die Anlagepolitik an den Finanz- und Kapitalmärkten haben. Tatsächlich herrschte spätestens seit der bahnbrechenden Arbeit von Fama (1970) die Vorstellung vor, dass Finanzmärkte jederzeit effizient sind und alle bewertungsrelevanten Informationen sofort, vollständig und "richtig" in den Wertpapierkursen Niederschlag finden. Eine Implikation davon wäre, dass Wertpapierkurse nicht prognostizierbar wären und Kursverläufe mehr oder minder zufällig wären. Wenn aber Kursentwicklungen zufällig wären, dann würde sich zum Beispiel auch keine fundamentale Analyse von Aktienunternehmen mehr lohnen. Würde aber kaum noch ein Anleger mehr intensive Unternehmens- und Bilanzanalyse betreiben, wäre auch nicht mehr sichergestellt, dass sich die Wertpapierkurse effizient entwickeln. Das Konzept effizienter Märkte wirkt nicht widerspruchsfrei.
Die verhaltensorientierte Finanzmarktforschung hat mit ihren vielen Beiträgen dazu beigetragen, sogenannte "Finanzmarkt-Anomalien" zu identifizieren, die sich als Abweichungen von den Annahmen der klassischen, rationalen Finanztheorie einstufen lassen und somit die Gültigkeit der Effizienzmarkthypothese erheblich in Frage stellen (siehe Überblick bei Shleifer, 2000). So hat unter anderem Nobelpreisträger Robert Shiller nachgewiesen, dass sich Aktienkurse tatsächlich stärker bewegen, als es fundamentale, rationale Bewertungseinflüsse erwarten lassen. Fisher Black (1986) prägte den Begriff des "Noise"-Tradings, also des Wertpapierhandels von Anlegern ohne fundamentale Auslöser. Ein anderes Finanzmarktphänomen ist die sogenannte Überreaktion (im Englischen bekannt als "Overreaction"). Hinter dem Effekt verbirgt sich eine langfristig erzielbare Über- oder Unterrendite mit Aktienportfolios oder einzelnen Wertpapieren, die sich in der Historie unter- oder überdurchschnittlich entwickelt haben. Auch diese Beobachtungen widersprechen der These vom effizienten Markt, denn historische Informationen dürften sich demnach nicht für profitable Investmentstrategien in der Zukunft ausnutzen lassen. Ein ähnlich gelagerter Effekt ist die Unterreaktion (auf historische Informationen), die auch als Momentum-Anomalie bekannt ist. Diese empirische Beobachtung beschreibt einen mittelfristig anhaltenden Performancetrend, der eine positive Autokorrelation der Renditen und damit eine Prognostizierbarkeit von Kursentwicklungen impliziert. Dieses Kapitalmarkt-Phänomen wurde im Zusammenhang mit unterschiedlichen Ereignissen dokumentiert: unter anderen nach höheren und niedrigen Dividenden- und Gewinnankündigungen, nach Ankündigen von Aktien-Splits, nach Aktienrückkaufen und nach Firmenabspaltungen (siehe Hirshleifer, 2001). Der sogenannte "Size"-Effekt tritt hingegen auf, wenn kleine Aktien-Unternehmen mit geringer Marktkapitalisierung risikoadjustierte Überrenditen erzielen, die nicht mit anderen fundamentalen Faktoren erklärt werden können als durch ihre Größe. Diese Anomalie wurde bereits erstmals im Jahre 1981 durch Banz dokumentiert.
Neben den genannten Finanzmarkt-Anomalien hat die verhaltensorientierte Kapitalmarktforschung noch viele weitere Auffälligkeiten dokumentiert, u.a. zu wiederkehrenden, prognostizierbaren saisonalen Rendite-Mustern (z.B. Januar-Effekt, Wochenend-Effekt). Darüber hinaus liefert sie zu den empirischen Belegen auch theoretische Erklärungen für diese Anomalien. Eines der wichtigsten Konzepte der Behavioral Finance ist dabei das Konzept der kognitiven Verzerrungen ("behavioral biases") oder auch systematische Urteilsfehler, die das menschliche Verhalten im Zusammenhang mit finanziellen Entscheidungen beeinflussen. Diese kognitiven Verzerrungen und Heuristiken können sich auf verschiedene Aspekte des Denkens und Verhaltens auswirken, einschließlich der Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, ihre Risikobereitschaft einschätzen und ihre finanziellen Ziele setzen.
Einige Beispiele für psychologische Verzerrungen und Heuristiken, die in der Behavioral Finance aufgedeckt und untersucht werden, sind:
- Anchoring: Die sogenannte Verankerungsheuristik tritt auf, wenn Menschen sich an einem ersten Eindruck oder einem völlig beliebigen Ausgangswert orientieren und ihre weitere Einschätzung danach ausrichten, anstatt sich auf alle relevanten Informationen zu stützen.
- Verlustaversion: Diese kognitive Verzerrung tritt auf, wenn Menschen es eher vermeiden, Verluste zu realisieren, was dazu führen kann, dass sie risikoaverse Entscheidungen treffen. Kleine Gewinne (und kleinste Verluste) werden realisiert, während (große) Verluste hingegen "laufengelassen" werden.*
- Hindsight Bias: Der systematische Rückschaufehler besagt, dass im Nachhinein historische Entwicklungen als so plausibel empfunden werden, als ob man sie hätte vorhersehen können. Was man aber in der Regel nicht hat. Das stärkt das Selbstbewusstsein, führt aber zur falschen Reflektion getroffener Anlageentscheidungen.
In der Gothaer Asset Management fließen die neuen Erkenntnisse der Behavioral Finance-Forschung in den Investmentprozess ein, wobei prozessuale und organisatorische Maßnahmen implementiert wurden, um negative Effekte durch kognitive Verzerrungen und systematische Urteilsfehler auf die Anlageperformance zu mitigieren oder zu verhindern:
Dem Anchoring wird entgegengewirkt, indem im Anlageprozess der Gothaer alternative Einschätzungen berücksichtigt werden und bei Prognosen möglichst andere Vorhersagen zunächst ignoriert werden, um das eigene Urteil nicht "zu verankern". Zudem werden möglichst "harte", fundamentale Bewertungsmodelle eingesetzt, statt nur auf "weiches" Sentiment zu setzen. Gegen das Problem der Verlustaversion helfen im Portfolio-Management liquider Wertpapiere konsequente Anlagedisziplin über die Festsetzung vordefinierter Kursziele und die Definition von Risikobudgets, die bei Erreichen automatisch eine Handlung auslösen. Auch die Implementierung eines Limitsystems wirkt dieser Problematik teilweise entgegen. Der systematische Rückschaufehler oder Hindsight Bias führt dazu, dass eigene Anlageurteile falsch reflektiert sowie Prognose- bzw. Entscheidungsfehler wiederholt werden. In der Portfolio-Management-Praxis werden daher Dokumentationen der wesentlichen Entscheidungen und Prognosen angefertigt und intern abgelegt: Die nachträgliche Analyse von Zeitpunkt der Entscheidung, des jeweiligen Datenkranzes und der historischen Interpretation erlauben eine Fehleranalyse und Lerneffekte für zukünftige Entscheidungen.
Die Behavioral Finance bietet auch Einsichten in die Art und Weise, wie Gruppendynamik und soziale Einflüsse das finanzielle Verhalten von Individuen beeinflussen können. Zum Beispiel wurde eine Herdenmentalität nachgewiesen, wonach Anleger dazu neigen, die gleichen Investment-Entscheidungen zu treffen, die andere Investoren bereits vor ihnen getroffen haben. Gerade Entscheidungen von Gruppen sind oft noch in stärkerem Maße von psychologischen und sozialen Verzerrungen tangiert als bei Einzelpersonen. Daher werden in bestimmten Investmentprozessen der Gothaer Asset Management geheime Abstimmungen und Prognosen abgegeben, die dann von einem Moderator aggregiert werden. Idealerweise wird ein "Teufels Advokat" eingesetzt, der die jeweiligen Urteile individuell mit Pro und Contra vorstellt und kritisch hinterfragt. Damit wird verhindert, dass Einzelne die Gruppenentscheidungen dominieren und andere sich erst gar nicht zu Wort melden.
Insgesamt hat die Behavioral Finance dazu beigetragen, das Verständnis der menschlichen Entscheidungsfindung auf den Finanzmärkten zu verbessern und hat zu einer Reihe von praktischen Anwendungen geführt, wie zum Beispiel der Entwicklung von Anlagestrategien, die auf die Verzerrungen von Investoren reagieren, oder der Verbesserung von Finanzdienstleistungen, indem man auf die spezifischen Bedürfnisse und Vorlieben von Kunden eingeht sowie der Optimierung bei der prozessual-organisatorischen Strukturierung von Investmententscheidungen, wie oben für die Gothaer Asset Management beschrieben.
Die Behavioral Finance ist jedoch auch Gegenstand von Kritik gewesen, da einige der Ergebnisse der Forschung als widersprüchlich oder schwer zu replizieren angesehen werden. Zudem gibt es auch die Frage, ob die Behavioral Finance tatsächlich in der Lage ist, die komplexen Dynamiken von Finanzmärkten vollständig zu erklären. In der Gothaer verfolgen wir daher auch weiterhin neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns helfen, das zunehmend komplexere Marktumfeld im Interesse unserer Anleger besser verstehen und managen zu können.
* Die bahnbrechende "Prospect Theory" der beiden Psychologen Kahnemann und Tversky (1979), die diese Erkenntnisse produzierte, gilt als realistischere Erwartungsnutzentheorie als die traditionell-neoklassische mit der heroischen Annahme des perfekten Homo oeconomicus. Kahnemann erhielt für seine Forschungen 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Tversky verstarb bereits 1996.
Literatur:
Banz, R., (1981), The Relationship Between Return and Market Value of Common Stock, Journal of Financial Economics 9, S. 3-18.
Black, F. (1986), Noise, in: The Journal of Finance, 41, S. 529-543
Fama, E. (1970): Efficient Capital Markets. A Review of Theory and Empirical Work, In: The Journal of Finance. 25, S. 383-417;
Hirshleifer, D., 2001, Investor Psychology and Asset Pricing, Journal of Finance 56, S. 1533-1597.
Kahneman, D. und A. Tversky, 1979, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, S. 263-291.
Shleifer, A., (2000), Inefficient Markets, Oxford University Press: Oxford. 1
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