BRÜSSEL/WASHINGTON (dpa-AFX) - Die Nato muss sich möglicherweise auf eine zusätzliche Bedrohung durch Russland vorbereiten. Nach Berichten mehrerer US-Medien haben amerikanische Geheimdienste Informationen über neue atomare Ambitionen Russlands im Weltall. Diese Fähigkeiten könnten sich demnach gegen Satelliten richten und so die nationale wie internationale Sicherheit bedrohen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte am Donnerstag am Rande eines Nato-Treffens in Brüssel, ihm lägen bislang keine Erkenntnisse darüber vor, dass Russland möglicherweise atomare Anti-Satelliten-Waffen im Weltraum stationieren wolle. Er kündigte allerdings an, dass er sich mit Partnern darüber austauschen werde. "Diese Meldungen sind meines Wissens sehr, sehr neu, jedenfalls für mich", sagte der SPD-Politiker.
Pistorius warnte davor, vorschnell Antworten zu geben oder zu glauben, welche zu haben. "Wir müssen die technischen Fragen klären und dann sehen, was daraus folgert", sagte er.
Gefahr für militärische Kommunikation und Aufklärung
Nach Informationen der "New York Times" sind die jetzt diskutierten nuklearen Fähigkeiten Russlands noch in der Entwicklung und bislang nicht zum Einsatz gekommen. Eine akute Gefahr bestehe daher nicht. Fox News berichtete, mit einem Einsatz nuklearer Systeme gegen Satelliten ließe sich möglicherweise militärische Kommunikation und Aufklärung der USA ausschalten.
Die "New York Times" schrieb zudem, die USA hätten den Kongress und Verbündete in Europa über die Pläne Moskaus informiert. Denkbar ist allerdings, dass in Europa zunächst nur Großbritannien eingeweiht wurde. Mit diesem Land pflegen die Amerikaner eine besonders enge geheimdienstliche Kooperation.
Weißes Haus: keine unmittelbare Gefahr
Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, bestätigte am Donnerstagabend, dass Russland militärische Fähigkeiten zum Einsatz gegen Satelliten im Weltall entwickle - die spezifische Art der Bedrohung ließ er dabei offen. Kirby betonte, es bestehe keine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit "von irgendjemandem". Es handele sich nicht um eine "aktive Fähigkeit" oder eine Waffe, mit der man Menschen angreifen könne. Man beobachte aber Russlands Aktivitäten und nehme die Situation sehr ernst.
Kreml wirft US-Regierung innenpolitische Ziele vor
Der Kreml warf der US-Regierung vor, mit dem gezielten Streuen der Information politische Ziele zu verfolgen. "Es ist offensichtlich, dass das Weiße Haus mit allen Tricks und Raffinessen versucht, den Kongress zur Abstimmung über das Gesetz zur Bereitstellung von Geld (für die Ukraine) zu bewegen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.
Bei dem von Peskow angesprochenen Geld handelt es sich um Waffenhilfe für die von Russland angegriffene Ukraine. Nach einem monatelangen Streit zwischen Demokraten und Republikanern hat der US-Senat vor wenigen Tagen die Freigabe der Mittel bewilligt. Allerdings muss noch das Repräsentantenhaus zustimmen - und ob es dazu kommt, ist fraglich. Im Repräsentantenhaus haben die Republikaner das Sagen. Und Abgeordnete vom rechten Rand der Partei stemmen sich vehement gegen weitere US-Hilfen für die Ukraine.
Nato beschäftigt sich seit Jahren mit Szenarien
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wollte sich am Donnerstag zunächst nicht näher zu dem Thema äußern. Er bestätigte bei der Pressekonferenz nach dem Verteidigungsministertreffen lediglich, dass ständig Geheimdienstinformationen ausgetauscht würden. Man habe Auswirkungen neuer Erkenntnissen stets im Auge.
Um auf Angriffe gegen Satelliten besser reagieren zu können, hatte die Nato bereits 2021 beschlossen, dass Angriffe aus oder im Weltraum künftig nach Artikel 5 zur kollektiven Verteidigung als Bündnisfall behandelt werden können - also so, wie zuvor Angriffe am Boden oder im Luft-, See- oder Cyberraum.
Begründet wurde der Schritt unter anderem damit, dass Angriffe auf Satelliten im Fall eines Krieges genutzt werden könnten, um Teile des öffentlichen Lebens lahmzulegen. So könnten etwa die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs, Handynetze oder Navigationssysteme für den Straßen-, See- und Luftverkehr schwer beeinträchtigt werden.
Weltraumvertrag verbietet Atomwaffen auf Erdumlaufbahn
Weil es der internationale Weltraumvertrag verbietet, Atomwaffen auf einer Erdumlaufbahn zu platzieren, wird aktuell davon ausgegangen, dass sich keine nuklearen Waffen im All befinden. Ganz klar ist dies aber nicht, da einige Raummissionen recht undurchsichtig sind. Allgemein gilt, dass der Weltraum auch militärisch genutzt werden kann - nicht aber, um mit Gewalt Konflikte auszutragen.
Als sicher gilt, dass eine explodierende Atombombe auf einer erdnahen Umlaufbahn enorme Schäden anrichten würde. Sämtliche Elektronik, etwa Satelliten, die wir für Kommunikation, Navigation oder Erdbeobachtung nutzen, würden zerstört werden und so die Kapazitäten der Nationen im Weltraum außer Kraft gesetzt. Resistent gegen einen solchen Angriff könnten lediglich gehärtete, also besonders gesicherte Satelliten sein, von denen es aber mutmaßlich nicht viele gibt.
Forschung auch in Europa
Zielgerichte Angriffe gegen einzelne Satelliten oder Konstellation scheinen mit Nuklearwaffen derzeit nicht möglich. Sollte eine Atombombe im All gezündet werden, würde eine Raumfahrtnation damit auch ihre eigenen Satelliten in Mitleidenschaft ziehen. Gezielt werden Satelliten derzeit mit Cyberattacken oder Blendversuchen vom Boden aus angegriffen.
Forschung zu Atomwaffen im All gibt es nicht nur in Russland, sondern etwa auch in Europa und den USA. Denkbar ist, dass Russland als Abschreckung und gezielte Überschreitung von Abkommen eine Atomwaffe ins All setzen könnte, ohne sie tatsächlich zu zünden. Ebenso könnte es sich in der Debatte um ein Missverständnis handeln, und im Raum stehen atombetriebene Satelliten, wie Russland sie bereits in der Vergangenheit genutzt hat, oder eine nuklear betriebene Station, nicht aber Waffen.
Atomwaffentests im Weltall gab es lediglich zu Beginn der Raumfahrtära Anfang der 1960er Jahre. Weitere Testzündungen sind durch den Kernwaffenteststopp-Vertrag untersagt.
Abgeordnete beruhigen
Mehrere Abgeordnete aus dem US-Repräsentantenhaus, die in Geheimdienstinformationen eingeweiht werden, bemühten sich nach den Medienberichten, der allgemeinen Aufregung entgegenzuwirken. Sie betonten - ohne näher auf Inhalte einzugehen, es handele sich zwar um eine ernste Angelegenheit, aber keineswegs um eine akute Krise. Auch der republikanische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, versicherte: "Es besteht kein Grund zur öffentlichen Beunruhigung." Der kanadische Verteidigungsminister Bill Blair nannte die Berichte bei dem Nato-Treffen in Brüssel hingegen besorgniserregend./aha/DP/he