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BERLIN (dpa-AFX) - In der Ampel ist ein Streit über Vorschläge der FDP für schärfere Bürgergeld-Regeln, das Aus der Rente mit 63 und andere sozialpolitische Reformen entbrannt. Die FDP streute am Wochenende ein Papier mit Forderungen nach härteren Sanktionen für Jobverweigerer - und erntete prompt entschiedenen Widerspruch des Koalitionspartners SPD. "Wir werden nichts machen, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schwächt und den sozialen Gedanken des Grundgesetzes aushebelt", sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur. Die Vorschläge der FDP seien "ein Überbleibsel aus der Mottenkiste und nicht auf der Höhe der Zeit". Der Koalitionspartner nehme damit weitere Belastungen für die arbeitende Bevölkerung in Kauf.
Hintergrund des Streits ist ein FDP-Beschlusspapier, das der dpa vorliegt und über das die "Bild am Sonntag" zunächst berichtet hatte. Darin stellen die Liberalen zwölf Punkte "zur Beschleunigung der Wirtschaftswende" vor. Es sieht unter anderem vor, dass Bürgergeldempfänger künftig sofort auf 30 Prozent ihrer Leistungen verzichten müssen, wenn sie einen Job verweigern. Bislang gilt für Leistungskürzungen ein Stufenmodell. Wie aus Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht, war 2023 nur ein Bruchteil der Leistungsbezieher von Sanktionen dieser Art betroffen. Das FDP-Papier soll an diesem Montag im Parteipräsidium beschlossen und auf dem Parteitag am Wochenende verabschiedet werden.
FDP-Vizechef Johannes Vogel mahnte am Sonntag mit Blick auf die Äußerungen Mützenichs, dass die "derzeitige Schwäche des Wirtschaftsstandortes" Deutschland auch den starken Sozialstaat gefährde. "Alle Koalitionspartner müssen ein gemeinsames Interesse haben, die Wirtschaftswende hinzubekommen", sagte Vogel der dpa. Dazu gehöre es, Bürgerinnen und Bürger steuerlich zu entlasten, aber auch "Leistungsgerechtigkeit" beim Bezug von Grundsicherung herzustellen.
In dem FDP-Papier heißt es: "Wer seinen Mitwirkungspflichten im Bürgergeld nicht nachkommt und beispielsweise zumutbare Arbeit ohne gewichtigen Grund ablehnt, sollte mit einer sofortigen Leistungskürzung von 30 Prozent rechnen müssen." Die bisherige Regelung sieht vor, dass das Jobcenter Bürgergeldbeziehern bei der ersten Pflichtverletzung maximal 10 Prozent der Leistungen für einen Monat streichen kann. Danach greift zunächst eine 20-Prozent-Kürzung, ehe die Möglichkeit besteht, die Leistung zeitweise um bis zu 30 Prozent zu reduzieren. Das geht der FDP nicht weit genug.
Auch mit Blick auf die abschlagsfreie Rente mit 63 sehen die Liberalen dringenden Änderungsbedarf. Das jetzige Modell entziehe "dem Arbeitsmarkt wertvolle Fachkräfte", heißt es in dem Papier. Deutschland könne sich angesichts des Fachkräftemangels keine Rente mit 63 leisten. Stattdessen müssten Arbeitsanreize für ältere Menschen gesteigert werden. "Wer mit 72 noch arbeiten möchte, soll dies unter attraktiven Bedingungen auch machen können", heißt es.
Anders als die SPD wollten die Grünen die Vorschläge der Liberalen am Sonntag auf Anfrage zunächst nicht kommentieren. Aus der Partei Die Linke kam scharfe Kritik. Der Vorsitzende Martin Schirdewan nannte das FDP-Papier "ein Dokument der sozialen Grausamkeit". Es brauche jetzt "keine neoliberale Rolle rückwärts, sondern endlich eine Zeitenwende für soziale Gerechtigkeit", sagte Schirdewan der dpa.
Die Union sieht die Koalition mit der Verbreitung des FDP-Papiers gar an einem Schlusspunkt angelangt. CSU-Chef Markus Söder sprach gegenüber der "Bild am Sonntag" von einer "Scheidungsurkunde für die Ampel". CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte die FDP auf, "sich ehrlich zu machen". Entweder steige sie aus der Ampel aus - oder setze wichtige Maßnahmen um, sagte Linnemann.
Kritik am Bürgergeld übte die Union schon lange vor seiner Einführung im Januar 2023. Ein Kern der Reform, die das umstrittene Hartz-IV-System im vergangenen Jahr abgelöst hatte, sind schwächere Sanktionsmöglichkeiten. Die Bundesregierung wollte mit dem neuen System auf mehr Kooperation mit Betroffenen setzen und weniger auf Druck durch Bestrafung. Ein Punkt, der FDP und Union besonders aufregt.
Erst kürzlich beschloss die Bundesregierung - auch unter dem Eindruck der Dauerkritik - neue Verschärfungen. Seit März können die Jobcenter Arbeitslosen das Bürgergeld für maximal zwei Monate komplett streichen, wenn diese sich als "Totalverweigerer" herausstellen. Laut Arbeitsagentur ist dies aber nur bei "wiederholtem" Verweigern einer zumutbaren Arbeit möglich.
Von Februar bis Dezember 2023 zählte die Bundesagentur für Arbeit (BA) 15 774 Fälle von Leistungskürzungen infolge von Arbeitsverweigerung - bei insgesamt rund 5,5 Millionen Bürgergeld-Empfängern. Das geht auch aus einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland hervor. Demnach lag die Gesamtzahl der Fälle, in denen das Jobcenter Leistungskürzungen verhängte, im vergangenen Jahr bei etwas mehr als 226 000. Laut BA betrafen die Kürzungen 2,6 Prozent der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Die Allermeisten kämen mit Leistungsminderungen nicht in Berührung, heißt es.
In den Jahren vor der Pandemie hatte es noch deutlich mehr Leistungskürzungen gegeben. 2019 waren es knapp 807 000 - also fast viermal so viele wie 2023. Einer der Gründe für diesen Rückgang sind laut BA die schwächeren Sanktionsmöglichkeiten im Bürgergeld-System. Ob die jüngsten Verschärfungen tatsächlich eine substanzielle Erhöhung der Kürzungen zur Folge haben werden, bleibt abzuwarten. Die Diskussionen darüber dürften weitergehen./faa/DP/jha