PARIS (dpa-AFX) - Das rechtsnationale Rassemblement National könnte künftig stärkste Kraft in der französischen Nationalversammlung werden. Ersten Hochrechnungen zufolge landete es mit seinen Verbündeten in der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl in Frankreich mit 34 bis 34,2 Prozent vorne.
Das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron landete demnach mit 20,3 bis 21,5 Prozent auf Platz drei hinter dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire mit 28,1 bis 29,1 Prozent. Wie viele Sitze die Blöcke in der Nationalversammlung bekommen, wird aber erst in Stichwahlen am 7. Juli entschieden.
Für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist das Ergebnis eine herbe Niederlage. Er hatte darauf gesetzt, mit der vorgezogenen Neuwahl die relative Mehrheit seiner Mitte-Kräfte im Unterhaus auszubauen. Das scheint nun äußerst unwahrscheinlich.
Erste Prognosen gehen davon aus, dass Marine Le Pens Rechtspopulisten und ihre Verbündeten im Unterhaus mit 230 bis 280 Sitzen stärkste Kraft werden könnten. An der absoluten Mehrheit mit 289 Sitzen könnten sie aber vorbeischrammen.
Auch die Linken könnten zulegen und auf 125 bis 200 Sitze kommen. Macrons Liberalen droht, auf nur noch 60 bis 100 Sitze abzusacken. Genaue Aussagen zur Sitzverteilung sind bisher aber schwierig. Vor der zweiten Wahlrunde können die Parteien noch lokale Bündnisse schmieden, die den Wahlausgang beeinflussen.
Sollte wie in den Prognosen nun vermutet keines der Lager eine absolute Mehrheit erlangen, stünde Frankreich vor zähen Verhandlungen um eine Koalition. Ein Zusammenkommen der grundverschiedenen politischen Akteure ist derzeit nicht absehbar. Erschwerend kommt hinzu, dass die französische politische Kultur eher auf Konfrontation als auf Kooperation ausgelegt ist.
Gemeinsam könnten die Oppositionskräfte womöglich die derzeitige Regierung des Macron-Lagers stürzen. Ohne eine Einigung auf eine Zusammenarbeit dürfte aber auch keine andere Regierung eine Mehrheit im Parlament finden. Möglich ist, dass die aktuelle Regierung in einem solchen Fall als eine Art Übergangsregierung im Amt bleibt oder eine Expertenregierung eingesetzt wird.
Frankreich würde in einem solchen Szenario politischer Stillstand drohen. Neue Vorhaben könnte eine Regierung ohne Mehrheit nicht auf den Weg bringen. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und Neuwahlen sind erst im Juli 2025 wieder möglich.
Für Deutschland und Europa hieße das, dass Paris als wichtiger Akteur in Europa und Teil des deutsch-französischen Tandems plötzlich nicht mehr tatkräftig zur Verfügung stehen würde. Statt neuen Initiativen stünde in Frankreich Verwaltung an der Tagesordnung. Das Amt von Staatschef Macron bleibt von der Wahl zwar unangetastet, doch ohne handlungsfähige Regierung könnte auch er seine Projekte nicht durchsetzen.
Sollte das RN noch besser abschneiden, als in Prognosen erwartet wird, und die absolute Mehrheit holen, wäre Macron faktisch gezwungen, einen Premier aus den Reihen der Rechtsnationalen zu ernennen. Denn das Unterhaus kann die Regierung stürzen. In einem solchen Szenario würde Macron deutlich an Macht einbüßen, der Premierminister würde wichtiger. Deutschland und Europa müssten sich darauf einstellen, dass das gespaltene Land keinen klaren Kurs mehr verfolgt und unzuverlässiger wird.
Im Gegensatz zu Macron gibt das RN wenig auf die seit Jahrzehnten enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Die europaskeptischen Nationalisten streben zudem danach, den Einfluss der Europäischen Union in Frankreich entscheidend einzudämmen. Sie könnten versuchen, in Brüssel etliche Vorhaben aus Eigeninteressen auszubremsen. Auch sind sie gegen die Erweiterung der EU, und sie stehen der Nato skeptisch gegenüber.
Als Präsident hat zwar Macron in der Außenpolitik Vorrang. Sollte RN-Chef Jordan Bardella oder ein anderer Rechtspopulist Premier werden, dürfte er seine Linie aber schwerlich ungehindert fortsetzen können.
Das RN profitierte von dem Schwung der Europawahl, bei der die Partei deutlich stärkste Kraft in Frankreich wurde. Bereits seit Jahren ist Le Pen zudem bemüht, das RN zu "entteufeln" und von seiner rechtsextremen Geschichte und Parteigründer Jean-Marie Le Pen und dessen Holocaustverharmlosung zu entkoppeln.
Mit ihrem Weichspülkurs hat sie die Partei bis weit in die bürgerliche Mitte hinein wählbar gemacht. Mit Jordan Bardella steht zudem nun ein frischer Politiker an der Spitze, der besonnener auftritt als Strippenzieherin Le Pen und nicht mit deren Familienclan verbandelt ist. Die Partei dürfte zudem von der Verunsicherung angesichts der multiplen globalen Krisen sowie von Frust und Enttäuschung über Macron profitiert haben.
Staatschef Macron und seinen Anhängern dürfte die überraschende Einigkeit des linken Lagers bei der Wahl zum Verhängnis geworden sein. Mehrfach hatte er zur Zusammenarbeit gegen die Extreme aufgerufen. Jedoch schlossen sich weder die konservativen Républicains noch Sozialisten oder Grüne für die Wahl mit ihm zusammen. Die Auflösung der Nationalversammlung wurde von vielen in Frankreich als unverantwortlich gewertet. Auch dies lasteten Französinnen und Franzosen Macron an.
Das linke Lager punktete mit dem neu geformten Bündnis, hinter das sich trotz interner Unstimmigkeiten etliche Menschen aus dem linken Spektrum stellten. Dass die Führungsfrage, also wer bei einem Wahlsieg Premier werden soll, offen gelassen wurde, dürfte zudem auch jene Wähler ins Boot geholt haben, die einem Bündnis mit dem populistischen Altlinken Jean-Luc Mélenchon kritisch gegenüberstehen.
Die Wahlbeteiligung lag den Instituten zufolge bei 65,8 bis 67 Prozent. Macron erklärte dem Élysée-Palast zufolge, dass die hohe Wahlbeteiligung den Willen zeige, die politische Situation zu klären. Mit Blick auf das RN-Ergebnis sagte er, es sei an der Zeit, für den zweiten Wahlgang einen breiten, eindeutig demokratischen und republikanischen Zusammenschluss zu bilden./rbo/DP/nas