10.07.2024 -
Die Politik kann verunsichern und die Märkte aus dem Tritt bringen. Im Extremfall stört sie Preisbildung und Außenhandel, bisweilen mit weltweiten Folgen. Manchmal sind die Folgen aber auch örtlich begrenzt, und die Märkte reagieren nur wenig oder beruhigen sich schnell wieder. Der Regierungswechsel in Großbritannien verspricht für die Märkte Gutes - ganz anders als auf der anderen Seite des Kanals, wo große Unsicherheit herrscht. Britische Aktien könnten nach ihren Mindererträgen seit dem Brexit-Referendum 2016 weiter aufholen.
Klares Ergebnis, steigende Kurse: Ein klarer Politikwechsel oder eindeutige Mehrheitsverhältnisse haben britischen Aktien schon oft Auftrieb gegeben. Die Wahlen von letztem Donnerstag bringen beides. Ich rechne daher mit einer guten Performance und traue auch britischen Staatsanleihen Gewinne zu - denn die politischen Risiken lassen nach, und Zinssenkungen der Bank of England werden wahrscheinlicher. Zuletzt hat Labour 1997 nach einer langen Oppositionszeit die Macht übernommen und eine klare Mehrheit der Sitze gewonnen. Einen Monat nach der Wahl hatte der FTSE 100 schon um 4% zugelegt, und die britischen Staatsanleihenrenditen waren um 22 Basispunkte gefallen. Ein Jahr später waren es über 35% Kursanstieg und 160 Basispunkte Renditerückgang.
Insgesamt positiv: Natürlich sind Mehrerträge britischer Titel nicht garantiert, aber das Umfeld ist gut. Die abgewählte Regierung war mit dem turbulenten Brexit und vielen Führungswechseln belastet, ganz zu schweigen von der miserablen Außendarstellung. Politiker unterschätzen oft, wie sehr Stillosigkeiten internationale Investoren irritieren. Hinzu kommt, dass britische Aktien und das Pfund im internationalen Vergleich günstig sind. Investoren dürften das interessant finden, zumal auch die Konjunkturaussichten gut sind. Das Wirtschaftswachstum dürfte von 0,3% z.Vj. im 1. Quartal auf 1,0% bis 1,5% im Jahr 2025 steigen. Es könnte sogar höher ausfallen, vor allem bei einer lockereren Geldpolitik. Der Haushaltsausblick ist zwar nicht überragend, aber auch nicht schlechter als in vielen anderen europäischen Ländern und den USA. Nichts spricht für Mindererträge britischer Staatsanleihen gegenüber anderen Industrieländertiteln.
Im Detail: Das Wahlprogramm von Labour war recht vage. Es heißt, man wolle das Wachstum fördern und nur das Geld ausgeben, das man habe. Versprochen werden Reformen des Energiesektors und eine bessere Infrastruktur - indem der Staat Eisenbahngesellschaften übernimmt, Häfen modernisiert werden und man neue Straßen baut. Vielleicht hat man auch einiges aus den USA gelernt, wo grüne Energie zu einem Schwerpunkt der Industriepolitik geworden ist. All das soll, so heißt es, "Wachstumskräfte entfesseln". Bessere Beziehungen zu Europa werden ebenfalls angekündigt, aber von einem Wiedereintritt in den gemeinsamen Markt oder die Zollunion ist nicht die Rede.
Anpassung: Die britische Wirtschaft und der britische Finanzsektor müssen sich an die Welt nach dem Brexit gewöhnen. Große Teile des Handels mit eurodenominierten Wertpapieren und des Investmentgeschäfts mussten in die EU verlagert werden, sodass London viele europäische Finanzexperten verloren hat. Zeitweise wurden in Paris mehr Aktien gehandelt als in London. Interessant wird sein, wie es weitergeht und ob Londons traditionelle Wettbewerbsvorteile dem für die britische Wirtschaft so wichtigen Finanzsektor erneut Auftrieb geben. Banken, Assetmanagement und Versicherungen werden wichtig bleiben. Ein stabileres politisches Umfeld kann aber auch FinTechs und Kryptowährungen helfen.
Risiken in anderen Ländern: Mit den Unterhauswahlen dürften die politischen Risiken in Großbritannien also nachgelassen haben. In anderen Ländern bleiben sie. Am Sonntag, kurz nach Redaktionsschluss, findet in Frankreich die zweite Runde der Parlamentswahlen statt. Sie bestimmt die endgültige Zusammensetzung der neuen Nationalversammlung nach Macrons Auflösungsbeschluss vor einigen Wochen. In den USA ist unklar, ob Präsident Biden angesichts der Zweifel an seiner Gesundheit im November wirklich wieder ins Rennen geht. Die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten können weiter eskalieren. Der Gegensatz zwischen westlichen und nicht westlichen Werten und Zielen wird die nächsten Jahrzehnte prägen - mit Folgen für Militärausgaben, physische Sicherheit, Cybersicherheit, Einwanderungspolitik und natürlich den Klimaschutz.
Politische Risiken bewerten: Den Anlegern werden diese politischen Risiken ständig vor Augen geführt. Man kann gut über sie diskutieren, aber eine genaue Definition fällt schwer - und die Auswirkungen auf Portfolios sind ebenfalls nicht leicht einzuschätzen. Manche Folgen sind aber eindeutig: Da ist zunächst die Unsicherheit. Politische Verwerfungen wie überraschende Wahlergebnisse oder, in extremeren Fällen, plötzliche Regierungswechsel machen Politik und Konjunkturausblick weniger berechenbar. Das wirft eine Reihe von Fragen auf: Was passiert mit Wachstum und Inflation? Wie reagiert die Geldpolitik? Wird die Regierung mehr Schulden machen? Werden sich die Beziehungen zu anderen Ländern ändern, mit Auswirkungen auf Handel und Investitionen? Viele Marktreaktionen sind denkbar, und meist geht es dabei um Zinsen und Währungen. In Emerging-Market-Ländern können die Kapitalzuflüsse nachlassen. Können Auslandskredite noch bedient werden, wenn die Währungsreserven allmählich zur Neige gehen? In Frankreich fürchtet man, dass die nötigen Haushaltsanpassungen zur Stabilisierung der Schuldenstandsquote bei einem unklaren Wahlausgang schwierig werden. Der Zinsabstand zwischen französischen und deutschen Staatsanleihen würde dann nicht so bald wieder fallen.
Frankreich ist ein gutes Beispiel dafür, dass es in Industrieländern meist um die Fiskalpolitik und die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen geht. Weil die Schuldenstandsquoten in den letzten Jahren immer weiter gestiegen sind, haben die Regierungen nur wenig Spielraum, bevor die Märkte reagieren und die Anleihenrenditen steigen. Man fragt sich aber auch, ob die geplanten Wachstumsprogramme sowie die Industrie-, Handels- und Regulierungspolitik realistisch sind. Auch Geld- und Fiskalpolitik könnten weniger berechenbar werden. Anleger können sich daher ihrer Erträge nicht sicher sein. Vielleicht investieren sie dann defensiver und verlangen höhere Risikoprämien.
In Frankreich und den USA herrscht zurzeit diese Art von Unsicherheit. Noch wissen wir nicht, wie die Regierungen nach den Wahlen aussehen werden. Großbritannien steht besser da, auch wenn das Wahlprogramm von Labour vieles im Unklaren lässt.
Unruhe: Weltpolitische Risiken haben Auswirkungen auf die Märkte, weil sie Angebot und Nachfrage beeinflussen. Terroranschläge und Drohungen damit, Säbelrasseln und offene Kriege schwächen Konsum und Investitionen in den betroffenen Regionen. All das kann Folgen für den Reise- und Güterverkehr sowie die Kapitalströme haben. Importe und Exporte werden erschwert. Investitionen in Unternehmen, die direkt oder indirekt in Spannungsgebieten tätig sind, werden risikoreicher. 2022 haben wir erlebt, dass eine weltpolitische Krise einen Angebotsschock auslösen und die Inflation anheizen kann, sodass die Zinsen steigen und Wachstum und Investitionen darunter leiden. Ohne Russlands Einmarsch in die Ukraine wäre der Energiepreisschock ausgeblieben. Die Zinsen wären vielleicht nicht so stark gestiegen, Anleihen hätten nicht so stark nachgegeben, und Europas Wirtschaft wäre vielleicht stärker gewachsen.
Konjunkturelle Folgen: Der Krieg hatte Auswirkungen auf Ausgaben und Investitionsentscheidungen, weil Unternehmen und Verbraucher risikoscheuer wurden. Die Risiken wurden Realität. Das Wachstum ließ nach, und die Risikoprämien stiegen. Aktien und Credits gaben also nach. Anleger mag aber beruhigen, dass Märkte auf weltpolitische Krisen oft überreagieren. Die erste Marktreaktion kann Kaufgelegenheiten schaffen, und am Ende sind die wirtschaftlichen Folgen oft geringer als befürchtet. Wie heißt es so schön? Man muss nichts fürchten außer der Furcht selbst.
Die größte Angst ist jetzt die vor einer neuen Konfrontation zwischen dem Westen auf der einen und einer Allianz aus China, Russland, Indien und anderen Ländern des globalen Südens auf der anderen Seite. Das kann Auswirkungen auf die weltweite Kapitalallokation haben (Deglobalisierung) und Anpassungen der Lieferketten erfordern. Spannungen gibt es, und in den letzten Jahren wurden sie größer. Wenn Donald Trump wieder US-Präsident wird, könnten sie weiter zunehmen. Aber Aktien notieren zurzeit auf Rekordhochs, und die Anleihenrenditen sind stabil oder fallen. Kurzfristig zählt die Wirtschaft, nicht die Politik.
Runde zwei: Wenn klar ist, ob die Demokraten Biden ersetzen oder nicht, wird man genauer einschätzen können, was in den USA Ende des Jahres passiert. Immer häufiger wird darüber gesprochen, wie sich Anleger auf einen Sieg Trumps vorbereiten können. Er wäre für Staatsanleihen eher ungünstig (wegen expansiver Fiskalpolitik und Inflation), aber gut für den Dollar. Vielleicht würde eine Technologieblase etwas unwahrscheinlicher. Noch hat das aber keine Auswirkungen auf die Kurse. Am Anleihenmarkt interessiert man sich zurzeit mehr dafür, wann die Fed die Geldpolitik lockert, zumal die Konjunkturdaten schwächer werden. Könnten die Leitzinsen im Juli überraschend gesenkt werden? An den Aktienmärkten geht die KI-Euphorie weiter und treibt die Kurse einiger weniger Titel. Bis jetzt war die Volatilität recht niedrig; der VIX liegt gerade einmal bei 12. Überall hört man, dass der Juli traditionell ein guter Monat für Anleihen und Aktien sei. Vielleicht wird die zweite Jahreshälfte 2024 doch nicht so ruhig.