TEL AVIV/GAZA/BEIRUT (dpa-AFX) - Zum ersten Jahrestag des Terrorüberfalls auf Israel am 7. Oktober mit 1.200 Toten wächst die Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten. Ungeachtet aller Aufrufe zu einer Waffenpause startete Israel eine neue Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens. Die Bilder von Panzern, die durch sandiges Gelände rollen, gleichen denen vom Anfang des Krieges im vergangenen Oktober.
Israel führt nach eigenen Angaben einen Mehrfrontenkrieg gegen die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon sowie gegen ebenfalls mit dem Iran verbündeten Milizen in Syrien, im Irak und im Jemen. Die größte Gefahr birgt jedoch eine Eskalation mit dem Iran. Nach dem Raketenangriff des Irans am vergangenen Dienstag hat Israel eine "bedeutende Antwort" angekündigt. Offen blieb nur wann, wo und wie. Der Iran drohte für diesen Fall schon eine "wesentlich härtere" Reaktion als in der vergangenen Woche an.
Alles begann mit einem Überraschungsangriff der Hamas am frühen Morgen des 7. Oktobers vergangenen Jahres. Es war das schlimmste Blutbad unter israelischen Zivilisten an einem Tag seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948. Tausende Bewaffnete der Hamas und andere Extremisten aus dem Gazastreifen durchbrachen damals die als unüberwindbar geltende israelische Sperranlage zu dem Küstengebiet.
Für Israel war Massaker ein schwerer Schock
Am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) wurden in israelischen Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens Frauen, Männer, Kinder und Alte umgebracht. Überlebende berichteten von grausamer Gewalt, Vergewaltigungen und Verstümmelungen. Zahlreiche Opfer waren junge Teilnehmer eines Festivals in der Negev-Wüste. Für die israelische Gesellschaft war das ein großer Schock, der bis heute nachwirkt. Die Frage, wie die hochgerüstete Armee komplett überrumpelt werden konnte, will Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erst nach dem Krieg aufarbeiten lassen.
Israel ist durch das harte Vorgehen und die hohe Zahl an Todesopfern bei seinem Militäreinsatz im Gazastreifen und nun auch im Libanon international in die Kritik geraten. In dem Küstengebiet starben seit dem 7. Oktober nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde rund 42.000 Menschen, etwa ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. Die Behörde differenziert nicht zwischen Bewaffneten und Zivilisten. Die UN haben diese Angaben als glaubhaft eingestuft.
Israel hat Kriegsziele bisher nicht erreicht
Zudem liegen nach UN-Angaben große Teile des Gazastreifens in Schutt und Asche. Dennoch hat Netanjahu die vorgegebenen Kriegsziele nicht erreicht, die Hamas zu zerstören und die mehr als 100 Geiseln zurückzuholen. Israel wirft der Hamas vor, in Wohngebieten, Krankenhäusern, Schulgebäuden und Moscheen zu operieren und Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu nehmen. Vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag läuft eine von Südafrika angestrengte Völkermord-Klage gegen Israel.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) rief erneut alle Beteiligten zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf. Die Würde der Menschen müsse geachtet werden. "Sie sind mit Rechten ausgestattet und sie haben Anspruch auf Schutz, humanitäre Hilfe und die Möglichkeit, in Sicherheit ein neues Leben aufzubauen", so das IKRK.
Israel gedenkt der Opfer des Terrorüberfalls
In Israel sind für den Jahrestag des Massakers am Montag zahlreiche Gedenkveranstaltungen geplant, bei denen vor allem der israelischen Opfer und der noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln gedacht werden soll. Angehörige und Freunde der Geiseln riefen zu einer Demonstration vor dem Amtssitz Netanjahus in Jerusalem auf.
Der Regierungschef wollte im Fernsehen eine Ansprache an die Nation halten. Staatspräsident Isaac Herzog wollte am Dienstagmorgen zu einer dreitägigen Fahrt zu den Kibbuzim und anderen Orten reisen, wo die Massaker stattgefunden hatten. "Wir alle leiden noch immer, und wir wollen der nationalen Trauer, den Tränen über die schreckliche Katastrophe, die uns heimgesucht hat, Raum geben", teilte sein Büro mit.
Schon vor dem Jahrestag Tausende Menschen bei Kundgebungen
In Rom kam es bei einer nicht genehmigten Pro-Palästina-Demonstration zu teils heftigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizisten. In London beteiligten sich am Samstag Zehntausende Menschen an einer propalästinensischen Demonstration. In Berlin beteiligten sich am Samstag laut Polizei weit über 1.000 Menschen an einem propalästinensischen Protestzug, rund 650 kamen zu einer proisraelischen Versammlung.
Zentralrat: Hemmschwelle für Gewalt gegen Juden sinkt
Der Zentralrat der Juden sieht erhebliche Gefahren für jüdisches Leben in Deutschland. "Die Hemmschwelle, zu Gewalt gegen Juden aufzurufen und auch auszuüben, sinkt", sagte Zentralratspräsident Josef Schuster der Deutschen Presse-Agentur. "Das ist eine erschütternde Entwicklung, die wir nicht einfach so hinnehmen können." Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte den Jüdinnen und Juden in Deutschland erneut volle Solidarität zu.
Israelische Armee setzt Angriffe im Libanon fort
Im Libanon setzte die israelische Armee ihre Angriffe gegen die Hisbollah-Miliz fort. Die Luftwaffe habe in der Nacht "eine Serie gezielter Angriffe" auf eine ganze Anzahl von Waffenlagern und "terroristischen Infrastruktureinrichtungen" der Hisbollah im Raum der Hauptstadt Beirut geflogen, teilte die Armee am Morgen mit. Bis zum Morgen meldete die Staatsagentur NNA rund 25 Angriffe auf die südlichen Vororte von Beirut, örtliche Medien berichteten ebenfalls von massiven Attacken im Laufe der Nacht und am Morgen.
Das Gesundheitsministerium teilte mit, dass seit Beginn der neuen Konfrontationen zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon vor einem Jahr mehr als 2.000 Menschen getötet und nahezu 10.000 weitere verletzt wurden. Das Ministerium unterscheidet dabei nicht zwischen Zivilisten und Hisbollah-Kämpfern. Auch die Hisbollah beschoss nach eigener Darstellung Israel mit Raketen und Drohnen.
Im Gazastreifen rückten israelische Panzerverbände in das Gebiet von Dschabalia im Nordosten vor, wie die Armee mitteilte. Die Hamas habe versucht, sich im Gebiet neu zu gruppieren. Alle Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen./wn/DP/ngu