Bern (ots) -
Die Umsetzung internationaler Verträge kann im schweizerischen Föderalismus eine Herausforderung sein. Eine vom SNF unterstützte Studie beleuchtet Ursachen und Folgen der unterschiedlichen kantonalen Herangehensweisen.
Anfang September 2024 wurde bei der Bundeskanzlei eine Volksinitiative für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen eingereicht. Die Initiative stützt sich insbesondere auf das Uno-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), das in der Schweiz 2014 in Kraft trat. Nach Schweizer Recht muss dieser Vertrag, wie alle vom Bund ratifizierten völkerrechtlichen Abkommen, sowohl auf Bundesebene als auch von allen Kantonen eingehalten werden. Zehn Jahre danach zeigt sich jedoch, dass das Übereinkommen kantonal sehr unterschiedlich umgesetzt wird: Das Spektrum reicht von revidierten Kantonsverfassungen über neue Gesetze bis zum vollständigen Fehlen von rechtlichen Anpassungen. Wie wirkt sich das Völkerrecht also in den Kantonen aus?
"Die Schweiz hat eine sehr vielfältige Politik- und Gesetzeslandschaft", hält Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht, gleich zu Beginn fest. "Das System ist nicht schwarz oder weiss. Vielmehr spielt das Völkerrecht in den Kantonen eine vielschichtige Rolle." Mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat die Juristin der Universität Lausanne gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Politikwissenschaft untersucht, was nach der Ratifizierung internationaler Verträge durch den Bund wirklich geschieht. Die Ergebnisse aus Interviews mit rund 100 Personen aus der kantonalen Politik und Verwaltung sowie von zivilgesellschaftlichen Organisationen sind in einem Buch zusammengestellt, das soeben bei Savoir suisse (*) erschienen ist.
Keine systematische Vorgehensweise
Eine Schlüsselerkenntnis der Studie ist, dass Bern den Kantonen keine standardisierten Vorgaben macht. "Unser Rechtssystem ist eine Art Kompromiss aus dem, was ein Vertrag verlangt, und dem, was damit für die bestehende Agenda der lokalen Verwaltung und Politik hinzukommt oder was dort politisch machbar scheint", erklärt die Forscherin.
Wenn die konkrete Umsetzung eines vom Bund unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrags Elemente beinhaltet, die in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fallen, wird von Fall zu Fall über das Vorgehen entschieden. Die Unterschiede zwischen den Kantonen bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass es keine automatischen Mechanismen für die Informationsübermittlung vom Bund zu den kantonalen Verwaltungen, Regierungen und Parlamenten gibt. Dies, obwohl ein neuer Vertrag die Einführung oder Anpassung von Regeln, Gesetzen oder Praktiken erfordert. Wenn sich keiner der involvierten Akteure - von gewählten Parlamentsmitgliedern bis hin zu den zuständigen Stellen im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsbereich - bewusst ist, welche Anforderungen das internationale Abkommen mit sich bringt, bleibt alles beim Alten. Ebenfalls nichts passiert, wenn die Kantonsregierung erklärt, dass die Anforderungen bereits erfüllt seien.
Gelegenheit bringt Veränderung
Die Flexibilität des Föderalismus kann somit dazu führen, dass gewisse Kantone noch jahrelang das Völkerrecht missachten. "Wir haben insbesondere festgestellt, dass bestimmte Verpflichtungen aus den Verträgen von den Kantonsparlamenten ignoriert oder auf die leichte Schulter genommen werden", bekräftigt Martino Maggetti, Professor für Politikwissenschaft, der an der Studie mitwirkte. "Und dass die politischen Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen oftmals die Unterschiede bei der Umsetzung erklären."
So war Basel-Stadt bei der Uno-Behindertenrechtskonvention Vorreiterkanton, nachdem dort 2015 eine parlamentarische Motion eingereicht worden war, auf die später eine Volksinitiative folgte. Der Initiator der Motion, der sozialdemokratische Grossrat Georg Mattmüller, war gleichzeitig seit 2001 Geschäftsführer des Basler Behindertenforums. Dieses Beispiel zeigt, wie ein völkerrechtlicher Vertrag als Gelegenheit genutzt werden kann, Projekte zu beschleunigen oder aufs Tapet zu bringen, die bereits auf der strategischen Agenda der beteiligten Akteure stehen.
Umgekehrt kann eine abwartende Haltung vorherrschen, wenn es keine Initiativen von zivilgesellschaftlichen oder politischen Organisationen gibt, die sich wie in diesem Fall für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen engagieren.
Ein langsames, aber inspirierendes Labor
Auf Bundesebene kam erst 2022 Bewegung in die Sache, als der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen des durch die Konvention vorgesehen Staatenberichtsverfahrens eine Prüfung der Situation in der Schweiz vornahm. Aufgrund dieses Berichts und des Drucks von Verbänden und betroffenen Personen ist nun eine Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes im Gange. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen veröffentlichte einen Leitfaden für die Kantone, der sich an dem von Basel-Stadt in Auftrag gegebenen Gutachten und den revidieren Gesetzen in proaktiven Kantonen orientiert. "Unser System ist manchmal langsam, aber es ist auch ein Labor, in dem sich die Kantone gegenseitig inspirieren", betont Evelyne Schmid.
Matthieu Niederhauser, Dozent am Institut für Politikstudien und Mitautor des Buchs, vergleicht den Föderalismus in der Schweiz mit einem "komplexen Fahrzeug, an dem 26 Mechanikerinnen und Me-chaniker wenig koordiniert herumwerkeln, das nicht sehr zügig fährt, letztlich aber doch vorwärts-kommt". Ein Fahrzeug, das vom Völkerrecht manchmal angestossen wird, manchmal aber auch ins Schwanken gebracht wird, aber nie ganz aus der Bahn geworfen wird.
(*) E. Schmid, M. Niederhauser, J. Miaz, M. Maggetti et C. Kaempfer: Les cantons face au droit international. Savoir suisse (2024) (http://doi.org/10.55430/12181SNMMK)
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Forschungsförderung in allen Disziplinen
Diese Forschungsarbeit wurde vom SNF mit dem Instrument Projektförderung unterstützt. Nach einem Auswahlverfahren können Forschende mit diesen Beiträgen Vorhaben zu selbst gewählten Themen und Forschungszielen eigenverantwortlich durchführen.
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Der Text dieser Medienmitteilung und weitere Informationen stehen auf der Webseite (https://www.snf.ch/de/Si11jdWpuN5Q5aCb/news/was-die-kantone-aus-dem-voelkerrecht-machen) des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung.
Pressekontakt:
Evelyne Schmid
Université de Lausanne
Centre de droit comparé, européen et international (CDCEI)
Tel.: +41 21 692 28 20
E-Mail: evelyne.schmid@unil.ch
Original-Content von: Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse, übermittelt durch news aktuell
Originalmeldung: https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100925169
Die Umsetzung internationaler Verträge kann im schweizerischen Föderalismus eine Herausforderung sein. Eine vom SNF unterstützte Studie beleuchtet Ursachen und Folgen der unterschiedlichen kantonalen Herangehensweisen.
Anfang September 2024 wurde bei der Bundeskanzlei eine Volksinitiative für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen eingereicht. Die Initiative stützt sich insbesondere auf das Uno-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), das in der Schweiz 2014 in Kraft trat. Nach Schweizer Recht muss dieser Vertrag, wie alle vom Bund ratifizierten völkerrechtlichen Abkommen, sowohl auf Bundesebene als auch von allen Kantonen eingehalten werden. Zehn Jahre danach zeigt sich jedoch, dass das Übereinkommen kantonal sehr unterschiedlich umgesetzt wird: Das Spektrum reicht von revidierten Kantonsverfassungen über neue Gesetze bis zum vollständigen Fehlen von rechtlichen Anpassungen. Wie wirkt sich das Völkerrecht also in den Kantonen aus?
"Die Schweiz hat eine sehr vielfältige Politik- und Gesetzeslandschaft", hält Evelyne Schmid, Professorin für Völkerrecht, gleich zu Beginn fest. "Das System ist nicht schwarz oder weiss. Vielmehr spielt das Völkerrecht in den Kantonen eine vielschichtige Rolle." Mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) hat die Juristin der Universität Lausanne gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Politikwissenschaft untersucht, was nach der Ratifizierung internationaler Verträge durch den Bund wirklich geschieht. Die Ergebnisse aus Interviews mit rund 100 Personen aus der kantonalen Politik und Verwaltung sowie von zivilgesellschaftlichen Organisationen sind in einem Buch zusammengestellt, das soeben bei Savoir suisse (*) erschienen ist.
Keine systematische Vorgehensweise
Eine Schlüsselerkenntnis der Studie ist, dass Bern den Kantonen keine standardisierten Vorgaben macht. "Unser Rechtssystem ist eine Art Kompromiss aus dem, was ein Vertrag verlangt, und dem, was damit für die bestehende Agenda der lokalen Verwaltung und Politik hinzukommt oder was dort politisch machbar scheint", erklärt die Forscherin.
Wenn die konkrete Umsetzung eines vom Bund unterzeichneten völkerrechtlichen Vertrags Elemente beinhaltet, die in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fallen, wird von Fall zu Fall über das Vorgehen entschieden. Die Unterschiede zwischen den Kantonen bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass es keine automatischen Mechanismen für die Informationsübermittlung vom Bund zu den kantonalen Verwaltungen, Regierungen und Parlamenten gibt. Dies, obwohl ein neuer Vertrag die Einführung oder Anpassung von Regeln, Gesetzen oder Praktiken erfordert. Wenn sich keiner der involvierten Akteure - von gewählten Parlamentsmitgliedern bis hin zu den zuständigen Stellen im Sozial-, Bildungs- oder Gesundheitsbereich - bewusst ist, welche Anforderungen das internationale Abkommen mit sich bringt, bleibt alles beim Alten. Ebenfalls nichts passiert, wenn die Kantonsregierung erklärt, dass die Anforderungen bereits erfüllt seien.
Gelegenheit bringt Veränderung
Die Flexibilität des Föderalismus kann somit dazu führen, dass gewisse Kantone noch jahrelang das Völkerrecht missachten. "Wir haben insbesondere festgestellt, dass bestimmte Verpflichtungen aus den Verträgen von den Kantonsparlamenten ignoriert oder auf die leichte Schulter genommen werden", bekräftigt Martino Maggetti, Professor für Politikwissenschaft, der an der Studie mitwirkte. "Und dass die politischen Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen oftmals die Unterschiede bei der Umsetzung erklären."
So war Basel-Stadt bei der Uno-Behindertenrechtskonvention Vorreiterkanton, nachdem dort 2015 eine parlamentarische Motion eingereicht worden war, auf die später eine Volksinitiative folgte. Der Initiator der Motion, der sozialdemokratische Grossrat Georg Mattmüller, war gleichzeitig seit 2001 Geschäftsführer des Basler Behindertenforums. Dieses Beispiel zeigt, wie ein völkerrechtlicher Vertrag als Gelegenheit genutzt werden kann, Projekte zu beschleunigen oder aufs Tapet zu bringen, die bereits auf der strategischen Agenda der beteiligten Akteure stehen.
Umgekehrt kann eine abwartende Haltung vorherrschen, wenn es keine Initiativen von zivilgesellschaftlichen oder politischen Organisationen gibt, die sich wie in diesem Fall für die Anliegen von Menschen mit Behinderungen engagieren.
Ein langsames, aber inspirierendes Labor
Auf Bundesebene kam erst 2022 Bewegung in die Sache, als der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen des durch die Konvention vorgesehen Staatenberichtsverfahrens eine Prüfung der Situation in der Schweiz vornahm. Aufgrund dieses Berichts und des Drucks von Verbänden und betroffenen Personen ist nun eine Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes im Gange. Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen veröffentlichte einen Leitfaden für die Kantone, der sich an dem von Basel-Stadt in Auftrag gegebenen Gutachten und den revidieren Gesetzen in proaktiven Kantonen orientiert. "Unser System ist manchmal langsam, aber es ist auch ein Labor, in dem sich die Kantone gegenseitig inspirieren", betont Evelyne Schmid.
Matthieu Niederhauser, Dozent am Institut für Politikstudien und Mitautor des Buchs, vergleicht den Föderalismus in der Schweiz mit einem "komplexen Fahrzeug, an dem 26 Mechanikerinnen und Me-chaniker wenig koordiniert herumwerkeln, das nicht sehr zügig fährt, letztlich aber doch vorwärts-kommt". Ein Fahrzeug, das vom Völkerrecht manchmal angestossen wird, manchmal aber auch ins Schwanken gebracht wird, aber nie ganz aus der Bahn geworfen wird.
(*) E. Schmid, M. Niederhauser, J. Miaz, M. Maggetti et C. Kaempfer: Les cantons face au droit international. Savoir suisse (2024) (http://doi.org/10.55430/12181SNMMK)
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Forschungsförderung in allen Disziplinen
Diese Forschungsarbeit wurde vom SNF mit dem Instrument Projektförderung unterstützt. Nach einem Auswahlverfahren können Forschende mit diesen Beiträgen Vorhaben zu selbst gewählten Themen und Forschungszielen eigenverantwortlich durchführen.
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Der Text dieser Medienmitteilung und weitere Informationen stehen auf der Webseite (https://www.snf.ch/de/Si11jdWpuN5Q5aCb/news/was-die-kantone-aus-dem-voelkerrecht-machen) des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung.
Pressekontakt:
Evelyne Schmid
Université de Lausanne
Centre de droit comparé, européen et international (CDCEI)
Tel.: +41 21 692 28 20
E-Mail: evelyne.schmid@unil.ch
Original-Content von: Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse, übermittelt durch news aktuell
Originalmeldung: https://www.presseportal.ch/de/pm/100002863/100925169
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