DJ Unicredit: Tatsächlicher US-BIP-Vorsprung gegenüber EU unklar
Von Hans Bentzien
DOW JONES--Der Abstand zwischen der Wirtschaftskraft der USA und Europas hat sich in den vergangenen Jahren vergrößert, aber Erik Nielsen, Group Chief Economics Advisor von Unicredit, ist der Ansicht, dass die starke Entwicklung zu einem großen Teil auf vorübergehenden Faktoren beruhe und das tatsächliche Ausmaß der Differenz noch nicht klar sei. "Vorübergehende Faktoren wie positive externe Schocks, Einwanderung und enorme fiskalische Anreize haben bei diesem Ergebnis eine viel größere Rolle gespielt als der Technologiesektor oder, allgemeiner ausgedrückt, der 'US-Exzeptionalismus'", schreibt Nielsen in einer Analyse.
Damit solle die Bedeutung der jüngsten technologischen Revolution nicht in Abrede gestellt werden, aber ihr tatsächlicher Beitrag zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei bisher, soweit er das beurteilen könne, gering. Nielsen verweist auf den sogenannten Draghi-Bericht, dem zufolge sich die Lücke zwischen dem US- und dem EU-BIP pro Kopf nach Kaufkraftparitäten (was für den Lebensstandard relevant sei) von 31 Prozent 2002 auf zuletzt 34 Prozent vergrößert habe. "Das ist enttäuschend, aber nicht gerade weltbewegend", befindet der Ökonom.
Bemerkenswert ist nach seiner Aussage, dass sich die Lücke strukturell nur um 3 Prozentpunkte vergrößert hat, obwohl die Europäer die durchschnittliche jährliche Arbeitsstundenzahl in dieser Zeit um satte 15 Prozent (auf etwa 1.600 Stunden) reduziert hätten, die Amerikaner ihre aber nur um 5 Prozent (auf etwa 1.900 Stunden). "Dies zeigt, dass das Wachstum der Produktivität pro Arbeitsstunde in den USA im Vergleich zu Europa in den vergangenen Jahrzehnten nicht beeindruckend war."
Nielsen weist außerdem darauf hin, dass diese langfristige Outperformance der USA beim BIP pro Kopf vor allem in den Jahren nach der Covid-Pandemie stattgefunden habe und hauptsächlich durch zyklische Faktoren ausgelöst worden sei.
Folgende zyklische Faktoren sieht der Ökonom am Werk:
1. Der Covid-Schock 2020/21 traf die US-Wirtschaft weniger stark, was zum Teil auf die geringeren Lockdowns zurückzuführen war (die wiederum eine höhere Sterblichkeitsrate pro Kopf in den USA verursachten).
2. Während der Covid-Pandemie und unmittelbar danach reagierte die Fiskalpolitik früher und viel aggressiver (und wahrscheinlich auch effektiver) als in Europa. "Christina Romer von der Universität Berkeley schätzt, dass die fiskalpolitische Reaktion der USA im Verhältnis zum BIP etwa dreimal so stark war wie die der großen EU-Länder", merkt Nielsen an.
3. Der globale Rohstoffpreisschock von 2021/22 bescherte den USA einen massiven Terms-of-Trade-Gewinn in Höhe von etwa 7 Prozent, während er für Europa einen Terms-of-Trade-Verlust in gleicher Höhe verursachte.
"Die verschiedenen europäischen Programme zur Sicherung von Arbeitsplätzen haben dazu beigetragen, dass die europäischen Arbeitsmärkte in den vergangenen Jahren trotz der sich abzeichnenden Rezession angespannt blieben. Rein rechnerisch ist die Produktivität in Europa dadurch gesunken, während sie in den USA mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wiederhergestellt wurde", erläutert der Ökonom.
Der Unicredit-Analyst räumt ein, dass der Technologiesektor und die Art und Weise, wie er sich auf den Aktienmärkten entwickelte, ebenfalls zum US-Wachstum beigetragen habe. Der Anstieg der Forschungs- und Entwicklungsausgaben des Sektors sei beeindruckend (obwohl er durch den Inflation Reduction Act angekurbelt worden sei und daher als Teil des oben erwähnten fiskalischen Stimulus gezählt werden sollte), und der Wohlstandseffekt der Aktienmarktrallye sei ebenfalls hilfreich gewesen, obwohl er kaum jemandem mit einem Einkommen unterhalb des obersten Drittels der Bevölkerung zugute gekommen sei. "Alles in allem war dieser Effekt aber im Vergleich zu den drei genannten Schocks verschwindend gering", schreibt Nielsen.
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January 20, 2025 04:14 ET (09:14 GMT)
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